„Aber nichts davon hat die erbarmungslose Stimme der Reue in meinem Herzen zum Schweigen bringen können.“
– Das Haus am Ende der Welt, S. 313
„Die eine Sache, die mich gerade wahnsinnig beschäftigt, ist …“
1. März 2021: Ich sitze zu Hause am Laptop, vor mir ein Schreibblock und ein Stift. Es ist die erste Sitzung eines dreimonatigen Online-Schreibseminars zur Entwicklung neuer Romanideen. Mein Debütroman Schattenwald hat einen Verlag gefunden und wird im Sommer 2022 erscheinen. Das Buch ist fertig geschrieben, ich habe Zeit und denke schon an neuen Stoff. Doch leider weiß ich noch nicht, was ich als Nächstes schreiben möchte. Ich hoffe, das Seminar wird neue Inspiration freisetzen, die ich dringend benötige.
Die Dozentin hat uns eben diesen Impulssatz diktiert. Wir haben fünf Minuten Zeit, ihn zu vervollständigen. Nicht nachdenken, einfach intuitiv drauflosschreiben. Von Hand, weil das angeblich die Gedanken besser fließen lässt. Ich schalte die Webcam aus, setze den Stift an und schreibe los:
„Die eine Sache, die mich wahnsinnig beschäftigt, ist die Frage, wo ich hingehöre.“
Als dieser Satz auf die Zeile fließt und viele weitere folgen, ahne ich noch nicht, was sich daraus entwickeln wird. Ich bringe nur die Gedanken und Gefühle zu Papier, die mir in diesem Moment durch Kopf und Herz gehen, und fülle eineinhalb DIN-A4-Seiten. Nachdem die fünf Minuten abgelaufen sind, sollen wir unseren Text nach Schlüsselbegriffen durchsuchen und diese unterstreichen. Ich markiere: Freiheit, Zugehörigkeit, Grenzen, Spannung, Loslassen.
Die Dozentin erklärt, dass eine gute Geschichte ein „universelles Thema“ haben muss. Ein zutiefst menschliches, eines, das jeder Mensch auf der Welt, unabhängig von Sprache und Kultur, versteht. Wenn wir uns vorstellen, wir müssten die Grundaussage dessen, was wir gerade aufgeschrieben haben, jemandem in China erklären, was würden wir sagen?
Ich überlege und notiere schließlich: „Es gibt kein echtes Leben im Falschen.“
Die Schreibübung hat mir gefallen, aber an diesem Tag weiß ich noch nicht, dass vier Jahre später mit Das Haus am Ende der Welt ein Roman erscheinen wird, der auf diesem Satz fußt. In den folgenden drei Monaten entwickle ich im Rahmen dieses Kurses mehrere Ideen, verwerfe viele wieder, verrenne mich und fühle mich im Einzelcoaching mit der Dozentin mehr als konfus. Doch nach und nach schält sich der Ansatz einer Geschichte heraus.
Ich habe zwei Figuren: Henning und seine Tochter Mai, und das Unausgesprochene, das zwischen ihnen steht. Doch woraus besteht dieses Unausgesprochene? Was ist ihr Thema? Welche falschen Glaubenssätze treiben jede dieser Figuren an, und wie lernen sie, ihre Schwierigkeiten zu überwinden? Über welche Hürden muss ich sie schicken? Und warum schreibe ich gerade darüber?
Die Idee braucht zwei Jahre, um zu einem tragfähigen Plot heranzureifen, und noch einmal zehn Monate, bis sie als Rohmanuskript geschrieben ist. Am Ende dieser Zeit nehme ich meine Seminarnotizen aus dem März 2021 wieder zur Hand und staune. Der Satz „Es gibt kein echtes Leben im Falschen“ könnte als Prämisse über der Geschichte stehen. Ich habe ihr zwar ein Motto aus der Bibel vorangestellt, aber dieses sagt etwas sehr Ähnliches aus.
„Jede Autorin, jeder Autor hat ein Thema, das sie oder ihn bewegt“, hat die Dozentin gesagt. Oft zieht sich dieses Thema durch das Gesamtwerk. Es ist ein Thema, das die Person im Innersten bewegt. Bei mir sind es offenbar die Fragen nach Zugehörigkeit und Wahrhaftigkeit. Das scheint auch in Schattenwald durch. Ein universelles Motiv, denn ich bin ja wirklich nicht der einzige Mensch, der sich solche Fragen stellt.
Manchmal werde ich gefragt, wie viel von mir in meinen Geschichten steckt, ob sie in irgendeiner Form autobiografisch seien. Wenn wir nur die reine Handlung und die Figuren betrachten, dann ist alles Fiktion. Nichts von dem, was ich schreibe, habe ich so erlebt. Aber die Fragen und Themen, die die Geschichten tragen, sind meine. Freiheit. Zugehörigkeit. Grenzen. Spannung. Loslassen. Diese Begriffe füllen nicht nur den Rucksack, den ich durch mein eigenes Leben trage – ich fülle damit auch die Taschen meiner Romanfiguren und lasse sie ihre Wege gehen. Sie nehmen dabei andere Abzweige als ich, gehen in einem anderen Tempo, fallen an anderen Stellen auf die Nase. Von ihnen lasse ich die Themen, die mich bewegen, zu anderen Menschen tragen, in der Hoffnung, dass sie verstanden und geteilt werden. Dass sie nachdenklich machen, ermutigen, trösten.
Und noch etwas habe ich einer meiner Figuren in ihren Rucksack gepackt. Aber mehr davon im nächsten Artikel.
Fotos: (c) Katrin Faludi