Buch-Countdown #7: Die Symbolik

„Sie schließt die Finger fester um den Kiefernzapfen, bis die stumpfen Schuppen in ihre Handflächen schneiden, denn sie will nicht in solche Traumbilder abgleiten. Aber irgendwie ist sie schuld an allem. Sie weiß nicht, warum. Sie weiß nur, dass.“

– Das Haus am Ende der Welt, S. 203

Was bringt man aus Finnland mit? Weiße Schokolade mit Himbeerstückchen und Salmiaklakritz zum Beispiel. Mumin-Sammeltassen, von denen angeblich jeder finnische Haushalt reichlich besitzt. Die Weingummimischung der Marke Ässä, weil das für mich als hessisch sozialisierten Menschen wie eine Aufforderung klingt.

Mein gewöhnlichstes und zugleich ungewöhnlichstes Souvenir aber sind eine Handvoll Kiefernzapfen. Ich habe sie vom Waldboden rund um mein Mökki aufgesammelt, wo sie massenhaft herumlagen. Natürlich kommt die Gemeine Waldkiefer auch in unseren Gefilden häufig vor, aber ich wollte etwas von dem Ort mitnehmen, den ich zum Schauplatz von Das Haus am Ende der Welt machen wollte. Etwas, das ich immer wieder in die Hand konnte, um die Verbindung zu diesem Ort zu spüren. So reiste ich, neben all den anderen Mitbringseln für meine Familie und mich selbst, mit einer kleinen Tüte voller Kiefernzapfen im Gepäck nach Hause.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung, warum diese Zapfen einmal wichtig werden würden. Ich erinnere mich auch nicht mehr, ob ich sie damals bereits gedanklich als Element in die Geschichte eingebaut hatte. Irgendwie fanden sie ihren Weg hinein – und das Merkwürdige ist: Ich wusste selbst nicht, welche Bedeutung die Kiefernzapfen tragen sollten.

Während meiner Schul- und Studienzeit, muss ich zugeben, war ich ziemlich schlecht im Interpretieren von Literatur. Die Bäume, Wälder und Zaunpfähle konnten noch so groß sein – oft begriff ich ihre Bedeutung nicht. Immer wieder staunte ich darüber, was Mitschüler und Kommilitonen alles an Symbolik in Geschichten fanden. Ich selbst schien dafür blind zu sein.

Und nun ist es mir selbst passiert: Ich habe Symbolik als Stilmittel eingesetzt. Je länger ich an Das Haus am Ende der Welt schrieb, desto häufiger drängten sich die Kiefernzapfen als bedeutungstragendes Bild in die Geschichte hinein. Meine Protagonistin Taina schleppt einen ganzen Rucksack voll davon auf ihrer spontanen Flucht von Deutschland in ihre karelische Heimat mit, ohne sich selbst erklären zu können, warum sie die Dinger eingepackt hat. Ich selbst konnte das zunächst auch nicht.

Mir erschien die Sache mit den Zapfen verrückt und einleuchtend zugleich. Sollte ich zu Beginn des Schreibens die wesentlichen Motive und Macken meiner Protagonisten nicht ausreichend ausgelotet haben? Ich bildete mir ein, das getan zu haben, doch dieses Symbol drängte sich hartnäckig auf. Immer wieder greift Taina im Laufe der Geschichte zu den Kiefernzapfen, hält sie in der Hand und zupft an den Schuppen herum. Warum sie davon nicht lassen kann und was sie ihr bedeuten – das konnte ich nicht bewusst benennen. Mir war nur klar: Das Ganze hat eine Bedeutung und sie ist wichtig.

Erst ganz am Ende der Geschichte löst sich das Rätsel um die Kiefernzapfen. Und erst, als ich diese Szene schrieb, begriff ich selbst, was ich damit zum Ausdruck bringen wollte. Plötzlich wurde mir die Symbolik, die sich durch das ganze Buch zieht, klar. Ich begriff, was meine Protagonistin im Innersten wirklich angetrieben hatte. Zwar hatte ich ihr einige Motive angedichtet, aber mit der eigentlichen Triebfeder ihres Handelns hat sie mich in diesem Moment überrascht. Es ergab absolut Sinn, und ich war nach dem Schreiben dieser Szene so beschwingt und glücklich wie bei keiner anderen. Vielleicht war dies sogar mein bisher glücklichster Schreibmoment. Besonders gefreut hat mich später der Kommentar meiner Lektorin an dieser Stelle: Diese Passage ist für mich die beste im ganzen Buch – sehr gut geschrieben!!!!!! Und normalerweise setzt sie Satzzeichen nicht im Rudel.

Südkarelien
Kiefernzapfen überall

Was habe ich daraus gelernt? Wenn solche Bilder auftauchen, haben sie eine Bedeutung, und es lohnt sich, darauf zu vertrauen, dass diese sich im Laufe des Prozesses erschließen wird. Während ich Schattenwald sehr detailliert geplant hatte, habe ich Das Haus am Ende der Welt intuitiver geschrieben und mir mehr Raum gegeben, die emotionalen Tiefen der Geschichte auszuloten. Das Unterbewusstsein schreibt mit, aber es kostet Überwindung, es anzuzapfen und seine Motive kommen zu lassen. Wer weiß schon, ob nicht am Ende etwas Peinliches oder Verstörendes dabei herauskommt?

Das war bei diesem Buch nicht der Fall. Aber mich hat am Ende doch überrascht, welches Gefühl aus den Tiefen meines Unterbewussten im Handeln meiner Figur zutage trat. Damit hatte ich nicht unbedingt gerechnet. Das aber sind die Momente, die das Schreiben für mich als Schriftstellerin so wertvoll und beglückend machen. Denn – und das gibt nicht jeder gerne zu – wir schreiben eben nicht nur für euch Leserinnen und Leser, sondern auch für uns selbst. Weil es diesen Drang gibt, Emotionen, die uns im Innersten bewegen, in erdachten Welten zum Ausdruck zu bringen und durch diese Welten andere Seelen zu berühren. Weil wir uns durchs Schreiben selbst besser verstehen lernen.

Was nicht alles in einer Handvoll Kiefernzapfen stecken kann.

Fotos: (c) Katrin Faludi

Buch-Countdown #6: Das Thema

„Aber nichts davon hat die erbarmungslose Stimme der Reue in meinem Herzen zum Schweigen bringen können.“

– Das Haus am Ende der Welt, S. 313

Savonlinna

„Die eine Sache, die mich gerade wahnsinnig beschäftigt, ist …“

1. März 2021: Ich sitze zu Hause am Laptop, vor mir ein Schreibblock und ein Stift. Es ist die erste Sitzung eines dreimonatigen Online-Schreibseminars zur Entwicklung neuer Romanideen. Mein Debütroman Schattenwald hat einen Verlag gefunden und wird im Sommer 2022 erscheinen. Das Buch ist fertig geschrieben, ich habe Zeit und denke schon an neuen Stoff. Doch leider weiß ich noch nicht, was ich als Nächstes schreiben möchte. Ich hoffe, das Seminar wird neue Inspiration freisetzen, die ich dringend benötige.

Die Dozentin hat uns eben diesen Impulssatz diktiert. Wir haben fünf Minuten Zeit, ihn zu vervollständigen. Nicht nachdenken, einfach intuitiv drauflosschreiben. Von Hand, weil das angeblich die Gedanken besser fließen lässt. Ich schalte die Webcam aus, setze den Stift an und schreibe los:

„Die eine Sache, die mich wahnsinnig beschäftigt, ist die Frage, wo ich hingehöre.“

Als dieser Satz auf die Zeile fließt und viele weitere folgen, ahne ich noch nicht, was sich daraus entwickeln wird. Ich bringe nur die Gedanken und Gefühle zu Papier, die mir in diesem Moment durch Kopf und Herz gehen, und fülle eineinhalb DIN-A4-Seiten. Nachdem die fünf Minuten abgelaufen sind, sollen wir unseren Text nach Schlüsselbegriffen durchsuchen und diese unterstreichen. Ich markiere: Freiheit, Zugehörigkeit, Grenzen, Spannung, Loslassen.

Siikalahti / Parikkala

Die Dozentin erklärt, dass eine gute Geschichte ein „universelles Thema“ haben muss. Ein zutiefst menschliches, eines, das jeder Mensch auf der Welt, unabhängig von Sprache und Kultur, versteht. Wenn wir uns vorstellen, wir müssten die Grundaussage dessen, was wir gerade aufgeschrieben haben, jemandem in China erklären, was würden wir sagen?

Ich überlege und notiere schließlich: „Es gibt kein echtes Leben im Falschen.“

Die Schreibübung hat mir gefallen, aber an diesem Tag weiß ich noch nicht, dass vier Jahre später mit Das Haus am Ende der Welt ein Roman erscheinen wird, der auf diesem Satz fußt. In den folgenden drei Monaten entwickle ich im Rahmen dieses Kurses mehrere Ideen, verwerfe viele wieder, verrenne mich und fühle mich im Einzelcoaching mit der Dozentin mehr als konfus. Doch nach und nach schält sich der Ansatz einer Geschichte heraus.

Ich habe zwei Figuren: Henning und seine Tochter Mai, und das Unausgesprochene, das zwischen ihnen steht. Doch woraus besteht dieses Unausgesprochene? Was ist ihr Thema? Welche falschen Glaubenssätze treiben jede dieser Figuren an, und wie lernen sie, ihre Schwierigkeiten zu überwinden? Über welche Hürden muss ich sie schicken? Und warum schreibe ich gerade darüber?

Die Idee braucht zwei Jahre, um zu einem tragfähigen Plot heranzureifen, und noch einmal zehn Monate, bis sie als Rohmanuskript geschrieben ist. Am Ende dieser Zeit nehme ich meine Seminarnotizen aus dem März 2021 wieder zur Hand und staune. Der Satz „Es gibt kein echtes Leben im Falschen“ könnte als Prämisse über der Geschichte stehen. Ich habe ihr zwar ein Motto aus der Bibel vorangestellt, aber dieses sagt etwas sehr Ähnliches aus.

„Jede Autorin, jeder Autor hat ein Thema, das sie oder ihn bewegt“, hat die Dozentin gesagt. Oft zieht sich dieses Thema durch das Gesamtwerk. Es ist ein Thema, das die Person im Innersten bewegt. Bei mir sind es offenbar die Fragen nach Zugehörigkeit und Wahrhaftigkeit. Das scheint auch in Schattenwald durch. Ein universelles Motiv, denn ich bin ja wirklich nicht der einzige Mensch, der sich solche Fragen stellt.

Tyrjänjärvi

Manchmal werde ich gefragt, wie viel von mir in meinen Geschichten steckt, ob sie in irgendeiner Form autobiografisch seien. Wenn wir nur die reine Handlung und die Figuren betrachten, dann ist alles Fiktion. Nichts von dem, was ich schreibe, habe ich so erlebt. Aber die Fragen und Themen, die die Geschichten tragen, sind meine. Freiheit. Zugehörigkeit. Grenzen. Spannung. Loslassen. Diese Begriffe füllen nicht nur den Rucksack, den ich durch mein eigenes Leben trage – ich fülle damit auch die Taschen meiner Romanfiguren und lasse sie ihre Wege gehen. Sie nehmen dabei andere Abzweige als ich, gehen in einem anderen Tempo, fallen an anderen Stellen auf die Nase. Von ihnen lasse ich die Themen, die mich bewegen, zu anderen Menschen tragen, in der Hoffnung, dass sie verstanden und geteilt werden. Dass sie nachdenklich machen, ermutigen, trösten.

Und noch etwas habe ich einer meiner Figuren in ihren Rucksack gepackt. Aber mehr davon im nächsten Artikel.

Fotos: (c) Katrin Faludi

Buch-Countdown #5: Die Figuren

„Als Taina von so nahem in seine Augen sieht, passiert etwas mit ihr. Ein Gefühl, als würde irgendwo in den muffigen Teilen ihres Bewusstseins ein Fenster aufgerissen. Eine kräftige Brise strömt durch ihre Erinnerung und bläst eine dicke Schicht Staub weg, der nun vor ihrem inneren Auge wirbelt, sich langsam setzt und den Blick auf das freigibt, was er über lange Zeit verdeckt hat.“

– Das Haus am Ende der Welt, S. 91

Kürzlich schickte mir eine Autorenkollegin diesen Aufkleber:

Diese Warnung hängt nun an meinem Kühlschrank, keine zwei Meter entfernt von dem Ort, an dem ich den größten Teil von Das Haus am Ende der Welt geschrieben habe.

Immer wieder werde ich gefragt: Haben meine Romanfiguren reale Vorbilder? Und wie viel von mir selbst steckt in den Figuren?

Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. In Das Haus am Ende der Welt ist von allem etwas dabei. Jede der Hauptfiguren trägt Anteile von mir, aber anderes an ihnen entspricht mir überhaupt nicht. Auch in manchen Nebenfiguren finde ich mich wieder, in anderen hingegen gar nicht. Manche Figuren haben reale Vorbilder, wie etwa ein Grenzbeamter, der eine kleine Rolle spielt. Bei einer anderen Figur hatte ich eine finnische Popsängerin vor Augen, die ich eine Zeit lang gerne gehört habe, die hierzulande aber unbekannt ist. Einige Figuren sind komplett auf meinem inneren Reißbrett entstanden. Manche begleiten mich schon lange, unabhängig von der Geschichte, andere sind erst sehr kurzfristig hinzugekommen. Und ja, in zwei Fällen bediene ich mich sogar bei Figuren aus Schattenwald.

Den sarkastischen Kriminalkommissar Jens Pieroth, der Sara gehörig auf die Nerven geht, habe ich kurzerhand zum Bruder meines Protagonisten Henning gemacht – ein Einfall, über den ich sehr glücklich bin. Jens stellt sich als wichtiger Katalysator heraus, der den manchmal etwas bräsigen Henning zum Handeln zwingt. Außerdem hat mir diese Enfant-terrible-Figur mit der großen Schnauze einfach Spaß gemacht zu schreiben.

Grundsätzlich ist es so, dass mir zunächst die Figuren einfallen, bevor sich überhaupt eine Art von Geschichte abzeichnet. Sie begleiten mich über lange Zeit. So war es bei der Mutter-Tochter-Konstellation aus Eva und Sara in Schattenwald, und so ist es auch bei dem Vater-Tochter-Duo aus Henning und Mai in Das Haus am Ende der Welt. Lange bevor sich eine Handlung entwickelt, fangen die Figuren in meiner Vorstellung an zu leben.

Zu Beginn herrscht zwischen diesen beiden Charakteren totale Harmonie. Solange dieser Zustand anhält, bleibt eine Geschichte jedoch in weiter Ferne, denn ohne Konflikte, ohne gegensätzliche Wünsche, ohne ein gegeneinander Arbeiten gibt es keine Handlung. Diese entsteht erst, wenn ich ein Element finde, das die beiden Figuren entzweit, sodass sie an gegensätzliche Pole geraten. Jede wird zum Antagonisten der anderen. Dann kann ich mit der Geschichte arbeiten.

Literatur ist ein Vehikel, innere Zustände in sprachliche Bilder zu übersetzen, die von anderen verstanden werden. Die Identifikation mit den Figuren gelingt, wenn Leserinnen und Leser eigene Konflikte in ihnen wiedererkennen. Deshalb hat Identifikation weniger mit dem Geschlecht, Alter oder der sozialen Stellung der Protagonisten zu tun, als es zunächst scheint. Es sind nicht die äußeren Hüllen des 47-jährigen Henning oder der 15-jährigen Mai, die beim Lesen Resonanz erzeugen, sondern ihre Konflikte und Dilemmata. Meine Aufgabe als Schriftstellerin ist es, Figuren zu erschaffen, in denen Leserinnen und Leser Motive aus ihrem eigenen Leben wiederfinden.

Wenn ich eine Geschichte plane, sind meine Protagonisten also schon lange da – und zugleich auch wieder nicht. Anfangs sind sie noch blass, doch im Laufe des Planungs- und Schreibprozesses erreichen sie den Punkt, an dem sie ein Eigenleben entwickeln. Sie schütteln gewissermaßen alle Harmonie und Idealisierung ab und beginnen, Seiten zu zeigen, die ich nicht unbedingt mag oder gutheiße. Weder Henning noch Mai sind im fertigen Buch die Menschen, die ich anfangs im Sinn hatte. Sie sind rauer, fehlerhafter und oftmals sogar unsympathischer, als ich sie mir ausgemalt hatte. Und das ist genau richtig so. Wenn sie sich im Laufe der Handlung von meinen Idealvorstellungen emanzipieren, fangen sie an, zu leben und eigenständig zu werden. Deshalb bedaure und feiere ich es zugleich, wenn sie plötzlich Macken entwickeln. So muss es sein.

Ein weiterer schöner Nebeneffekt: Je mehr Eigenleben die Figuren entwickeln, desto mehr Stoff bieten sie an, der es am Ende nicht in die Geschichte schafft. Das ist einerseits schade (Stichwort: „Kill Your Darlings“), andererseits sorgt es dafür, dass die Figuren am Ende nicht „auserzählt“ sind. Wie geht es am Ende von Schattenwald nun mit Sara und Ramin weiter? Oder mit Leonie? Wird sich Sara mit ihrer Mutter versöhnen, oder entzweit das Erlebte sie noch mehr? In den Köpfen der Leserinnen und Leser leben die Figuren weiter. So wird es auch bei Das Haus am Ende der Welt sein.

Übrigens denke ich über all diese Fragen auch selbst immer wieder nach, denn wenn das Buch geschrieben ist, verschwinden die Figuren, die mich so lange begleitet haben, nicht einfach. Vielleicht formuliere ich ja eines Tages neue Antworten für sie.

Fotos: (c) Katrin Faludi

Buch-Countdown #4: Die Anekdote

„Über dem russischen Ufer taucht ein Helikopter auf. Einen Augenblick lang verharrt er uns gegenüber in der Luft, als würde die Besatzung an Bord mit ihren Feldstechern gucken, welche Marke Bier wir trinken. Juha scheint dasselbe zu denken. Er reckt seinen rechten Arm mit der Bärendose in die Luft und brüllt aus vollem Hals gegen den Krach an: ‚Hyvää Juhannusta!‘“

– Das Haus am Ende der Welt, S. 303

Korvapuustit

Ich habe keine Ahnung von Kaffee, ich trinke nie welchen. Noch weniger Ahnung habe ich von finnischem Kaffee. Nun stehe ich im Supermarkt vor dem Kaffeeregal und studiere ratlos die fremden Marken und Sorten. Juhla oder Presidentti? Welchen soll ich meinen Gästen bloß vorsetzen?

Kurzerhand schnappe ich mir die nächste vorbeilaufende Kundin. „Entschuldigen Sie, welchen Kaffee würden Sie kaufen, wenn Sie Gäste erwarten?“ Die Frau sieht mich völlig verdattert an. Angesichts dessen, was ich über die Finnen und ihr Verhältnis zum Kaffeekonsum gelesen habe (sie gehören stets zu den Top 3 der Kaffeetrinkernationen weltweit), muss meine Frage wirken, als hätte ich wissen wollen, ob man Luft atmen kann. Die Frau deutet auf eine Packung Juhla. „Den würde ich nehmen.“ Fluchtartig verlässt sie die Szene, und ich werfe Juhla in meinen Einkaufswagen. Ich glaube, das Wort bedeutet „Feier“. Na, das passt ja, denke ich, denn mir ist zum Feiern zumute.

Am Nachmittag kämpfe ich in der Mökkiküche mit der Kaffeemaschine, die im ersten Versuch nur blasse Plörre ausspuckt. Den zweiten Versuch lasse ich gelten, fülle die Kanne und richte die mitgebrachten Korvapuustit auf einem Teller an. Diese Zimtschnecken sollen hier unglaublich beliebt sein, aber ich frage mich trotzdem, warum man sie „Ohrfeigen“ nennt. Mit Ohren haben die Teilchen jedenfalls keinerlei Ähnlichkeit. Diese Frage werde ich mir für mein Buch merken, denn ich habe vor, einiges von dem, was ich in Finnland gegessen habe, in der Geschichte unterzubringen – bis auf den zementfarbenen Lakritz-Fudge-Pudding vielleicht. So grausam bin ich dann doch nicht.

Pünktlich um 14 Uhr kommt das Vermieter-Ehepaar. Er ist Anfang 60, pensionierter Grenzschützer, und hinkt auf einem Bein. Das jahrelange Marschieren über Stock und Stein, immer zehn Kilometer pro Streife, hat Spuren hinterlassen. Seine Frau ist etwas jünger und Englischlehrerin an einer Schule in der Nachbarstadt. Damit sichert sie die Konversation, denn ihr Mann behauptet, kein Englisch zu sprechen. Zwar habe ich daran Zweifel, aber die Rollen sind klar verteilt: Sie redet, er sitzt mit unergründlicher Miene auf der Veranda und blickt schweigend über den See.

Von der Frau erfahre ich einiges über das Leben in der Grenzregion. Sie bedauert, dass die Beziehung zu Russland in den vergangenen Jahren so abgekühlt ist. Es sei ein rätselhaftes Land, das man von außen wohl nicht verstehen könne. Die Menschen seien sehr angenehm und gastfreundlich, aber mit den Behörden könne es schwierig werden. Die Grenzschützer beider Länder hätten jedoch überwiegend gut zusammengearbeitet.

Ich erfahre, dass die finnischen Grenzschützer in der Region viel Präsenz zeigen, auch um der Bevölkerung Sicherheit zu vermitteln. Man sei wachsamer geworden, seit sich die Beziehungen verschlechtert haben. Hin und wieder komme es zu kleineren Sticheleien von russischer Seite, die an sich aber harmlos sind. Eine solche Geschichte, die der Mann in einem seiner seltenen Einwürfe erzählt, bringt mich zum Schmunzeln. Auf diese Art Anekdoten habe ich gehofft, und ich bin mir sicher, dass sie in irgendeiner Weise in die Geschichte Einzug halten werden.

Ich folge dem Blick meines Vermieters, der oft zum russischen Seeufer hinüberwandert. Es ist ihm anzumerken, dass er misstrauisch ist; er erzählt nur sehr dosiert. Das wundert mich nicht. Ich bin froh und dankbar, dass er sich überhaupt zu einem Treffen bereit erklärt hat und bereit ist, meine Neugierde ein wenig zu stillen. Mir geht es auch nicht um krasse Geschichten oder Geheimnisse. Kleine Anekdoten aus dem Alltag eines Grenzschützers – das war, worauf ich gehofft habe. Um das Setting, über das ich schreiben will, ein wenig lebendiger und glaubhafter zu gestalten.

Dass mich der Vermieter zu einer kleinen Nebenrolle im Buch inspiriert, ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Es ergibt sich im Schreibprozess. Da taucht er auf einmal am Rand der Geschichte auf – dieser ältere Grenzschutzsoldat, der auf einem Bein hinkt und einem nie in die Augen sieht, sondern stets knapp am Gesicht vorbei. Ein Hundeführer, wie es mein Vermieter gewesen ist, hilfsbereit, aber reserviert. Wer in Das Haus am Ende der Welt auf diese Figur trifft, weiß nun: Es gibt ihn wirklich – irgendwie. Natürlich heißt er anders, und inzwischen ist er pensioniert. Aber diese Figur hat ein Vorbild.

Nach zwei Stunden verabschiedet sich das Ehepaar. Ich feiere die Begegnung, die mich inspiriert hat. Doch als ich die Kaffeetassen in die Küche räume, stelle ich fest, dass der Juhla-Kaffee so gar nicht gefeiert wurde. Die Tassen sind noch halb voll. Ich muss wohl an meinen Kaffeeskills arbeiten – oder beim nächsten Mal Presidentti kaufen.

Fotos: (c) Katrin Faludi

Buch-Countdown #3: Das Wunder am Wegrand

„Die Schotterstraße wand sich in weiten Kurven durch die Wald- und Wiesenlandschaft. Birken und Fichten zogen Tainas Blick jedes Mal unwillkürlich aufwärts, wenn sie auf die Straße trat. Zwischen den Baumwipfeln sah das helle Band des Himmels aus wie ein Weg, fand sie. Manchmal stellte sie sich vor, barfuß über die Wolken zu hüpfen, was bei den spitzen Kieseln zu ihren Füßen undenkbar war.“

– Das Haus am Ende der Welt, S. 35

Lupinen am Wegrand in Südkarelien / Finnland

In der Mittagssonne wandere ich die Schotterstraße nach Norden, vorbei an Blumenwiesen und Waldflecken. Hin und wieder blitzt der See zwischen den Bäumen hindurch. Auch Tage nach meiner Ankunft staune ich noch über das Licht, das mir in diesen Breiten so viel greller und intensiver erscheint. Der finnische Sommer gibt alles; schnell wird mir in meinen Jeans zu warm.

Am späten Vormittag bin ich von meinem Mökki aufgebrochen und dem Waldweg bis zur Straße hinunter gefolgt. Während ich durch einen Birkenhain wanderte, kam mir ein Gedanke: Du könntest ja mal beten. Einfach so, aus dem Nichts.

Landschaft am Tyrjänjärvi/Südkarelien

Gebet ist mir nicht fremd, doch dieser Gedanke überraschte mich, denn ich wusste nicht, wofür ich beten sollte. Der Weg vor mir war weder lang noch beschwerlich – das wusste ich, denn ich war die Strecke bereits mit dem Auto abgefahren. Ich wollte etwa sieben Kilometer nach Norden wandern, bis zu einer Stelle, an der die Grenze zwischen Finnland und Russland in nur 50 Metern Abstand parallel zur Straße verläuft. Viel erhoffte ich mir davon nicht, denn vom Auto aus war dort kaum etwas zu sehen gewesen. Doch an diesem Vormittag hatte ich nichts Besseres vor, da mein ursprüngliches Programm für den Tag – ein Besuch im Grenzmuseum von Imatra – leider ins Wasser gefallen war. Das Museum war wegen Umbau geschlossen.

Ja, wofür sollte ich beten? Ich überlegte kurz und sagte dann in Gedanken: Okay, Gott, zeig mir einfach etwas Bemerkenswertes am Wegrand.

Landstraße in Südkarelien

Das ist nun etwa eine gute Stunde her und das Bemerkenswerteste, was ich bisher am Wegrand entdeckt habe, war etwas rostiger Stacheldraht neben einem Baumstumpf, auf dem ich während einer kurzen Pause meinen Apfel gekaut habe. Ansonsten ist die Gegend freundlich und unaufdringlich. Äcker und Wiesen, flimmernde Luft und Grillenzirpen, ab und zu ein Straßenabzweig, der weiter ins Nirgendwo zu führen scheint.

Doch dann sehe ich sie: Am Wegrand recken sich zartrosa und kräftig violette Rispen der Sonne entgegen – ein kleines Meer aus Lupinen! Meine Lieblingsblumen. In meinem Garten wollen sie nicht gedeihen, aber hier im Norden schießen sie im Juni praktisch aus jedem Straßengraben empor! Glücklich hole ich meine Spiegelreflexkamera aus dem Rucksack, kauere mich vor den Graben und mache Bilder.

Da nähert sich ein Auto. Das erste seit einer halben Stunde auf dieser einsamen Landstraße. Es hält an, und ein zahnloser alter Mann in Cordhosen, die ähnlich verbeult wirken wie sein Auto, steigt aus und ruft mir etwas auf Finnisch zu. Als er merkt, dass ich ihn nicht verstehe, kommt er näher und wiederholt seine Frage langsamer. Er spricht offenbar kein Englisch.

„Warum machst du Fotos von dem Unkraut dort?“, reime ich mir zusammen.

Ich krame meine spärlichen Finnischkenntnisse zusammen und erkläre ihm, dass ich die Blumen schön finde. Der Alte lacht, macht eine wegwerfende Handbewegung und behauptet, das sei nur Abfall am Straßenrand. Als Nächstes will er wissen, ob ich hier Urlaub mache und von wem ich eine Hütte gemietet hätte. Als ich den Namen meines Vermieters nenne, steht er plötzlich stramm und salutiert: „Soldaatti! Rajamies!

Lupinen in Südkarelien

Wie sich herausstellt, ist mein Vermieter, dem ich bisher nicht persönlich begegnet bin, Grenzbeamter! In mir springt ein Gefühl an, als hätte ich gerade einen Spielautomaten geknackt. Ich hatte mir insgeheim gewünscht, einen Grenzbeamten zu treffen, hatte mich jedoch nicht getraut, den Grenzschutz zu kontaktieren – nicht in politisch so sensiblen Zeiten wie diesen. Aber eine wichtige Nebenfigur in meinem Roman ist Grenzschützer, und ich hätte gerne einen solchen kennengelernt, um das, was ich bisher recherchiert hatte, mit persönlichen Eindrücken zu ergänzen.

Der alte Mann ist entgegen aller finnischen Klischees in Plauderlaune und lädt mich auf einen Kaffee zu sich nach Hause ein, aber ich lehne dankend ab und setze meinen Weg fort. Nach ein paar Schritten ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche – und zaudere. Zu gerne würde ich meinen Vermieter fragen, ob er zu einem Treffen bereit wäre, um mir ein paar Fragen zu beantworten. Aber wäre das nicht furchtbar aufdringlich?

Da fällt mir mein Gebet vom Beginn der Wanderung wieder ein: Gott, zeig mir etwas Bemerkenswertes am Wegrand.

Und wenn diese Begegnung eben das Bemerkenswerte war, für das ich gebetet habe? Ich glaube an Zufälle, aber nicht nur. Vielleicht ist das gerade eine Antwort auf ein anderes, heimliches Gebet, das ich nie so formuliert, aber schon länger in mir getragen habe: Ich würde zu gerne jemanden vom Grenzschutz treffen.

Südkarelien/Finnland

Immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht, dass meine Sehnsüchte mich nicht zufällig in eine bestimmte Richtung ziehen. Ich glaube sogar, dass Gott mir solche Sehnsüchte ins Herz legt, um mich zu Dingen zu bewegen, die mich selbst und später auch andere glücklich machen. Warum wollte ich so unbedingt nach Finnland? Warum gerade an diesen bestimmten Ort? Warum will ich unbedingt dieses Buch schreiben? Ich glaube an einen Sinn dahinter.

Vielleicht will ich die Geschichte nicht nur schreiben. Vielleicht soll ich es auch. Weil es mich selbst glücklich macht, zu schreiben – aber vielleicht auch, weil das Buch später einer bestimmten Leserin oder einem bestimmten Leser in irgendeiner Weise ins Herz spricht und etwas Gutes bewirkt. Das ist jedenfalls meine Hoffnung.

Ich schreibe meinem Vermieter eine Nachricht.

Fotos: (c) Katrin Faludi

Buch-Countdown #2: Der Schauplatz

„Sie richtet ihren Blick auf das flache Holzhäuschen vor sich. Das Mökki, das leicht erhöht auf einem Buckel steht, bekommt eine letzte Ladung Sonnenstrahlen ab. Sein roter Anstrich ist schon etwas verblichen und bringt stellenweise rohes Holz zum Vorschein wie Schürfwunden, von Zeit und Witterung gerissen.“

– Das Haus am Ende der Welt, S. 29

Es ist ein später Abend Mitte Juni 2023, und wie meine Protagonistin Taina aus Das Haus am Ende der Welt stehe auch ich allein auf dem Vorplatz eines rotgestrichenen Mökkis im äußersten Südosten Finnlands, erschöpft, ja geradezu erschlagen von einem langen Reisetag. Erst der dreistündige Flug, dann noch einmal vier Stunden Autofahrt über endlose Landstraßen, immer ostwärts, dem weiten, blassblauen Abendhimmel entgegen.

Südkarelien/Finnland

Auf dem letzten Kilometer habe ich meinen kleinen Mietwagen eine steile Waldpiste hochgequält und immer wieder die Zähne zusammengebissen, wenn ein großer Schotterstein gegen den Unterboden prallte. Ein letztes Aufbäumen auf der besonders steilen Zufahrt, dann bin ich angekommen und werde mit einem grandiosen Ausblick belohnt: Durch die Wipfel der Kiefern und Espen am Abhang schimmert der Tyrjänjärvi im Dämmerlicht. Und vor mir steht das Mökki. Mein Sehnsuchtsort, seit ich die Anzeige für dieses Ferienhaus erstmals entdeckt hatte. Ich schicke einen dankbaren Gedanken an meinen Mann, der sich Urlaub genommen hat, um die Kinder zu versorgen, damit ich zur Buchrecherche nach Südkarelien reisen konnte.

Schnell lade ich mein Gepäck ins Haus und steige voller Vorfreude die frisch gezimmerte Holztreppe hinab zum Bootssteg. Der See bildet eine makellose Fläche, in der sich der Waldsaum am gegenüberliegenden Ufer gestochen scharf spiegelt. Doch als ich auf die Planken trete, passiert etwas Merkwürdiges.

Es ist wie ein Sog, wie ein plötzliches Vakuum, das jeden Laut schluckt. Unheimlich. Schmerzhaft, irgendwie.

Reglos stehe ich am Ende des Stegs, blicke über den See und staune über diese dröhnende Stille, wie ich sie noch nie vernommen habe. Einer riesigen Kuppel gleich umfängt sie mich und mich durchdringt ein dumpfes Gefühl, wie die kurze Taubheit nach einem lauten Knall.

Tyrjänjärvi

Monatelang habe ich mich auf diesen Moment gefreut, auf das Ankommen, den ersten Blick über den See. Doch nun stehe ich hier, wie leergesaugt von diesem Vakuum. Statt der erwarteten Freude beginnt mich etwas anderes von innen her zu füllen: Beklommenheit. Traurigkeit. Eine diffuse Angst aus großer Tiefe.

Was tue ich hier? So ganz allein an diesem fast unerträglich stillen Ort, 2000 Kilometer von zu Hause entfernt, wo der Stadtlärm zu Tages- und Nachtzeit wie Sauerstoff die Luft erfüllt? Was hat mich hierhergezogen?

Es fällt mir schwer zu atmen. Die unerwartete Enttäuschung fühlt sich an wie eine zu feste Umarmung. Ich wollte doch so gerne hierherkommen, meine Geschichte träumend zum Leben erwecken. Doch nun stehe ich hier und fühle mich verloren in dieser erdrückenden Weite.

Dann begreife ich.

Ich bin hier richtig. Ich soll hier sein. So fühlt er sich an, der Schauplatz meiner neuen Geschichte, von der ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, dass sie Das Haus am Ende der Welt heißen wird. Denn an diesem Ende stehe ich. Schaue über das Wasser hinüber zu dem menschenleeren Ufer.

Mit dem Ruderboot, das kieloben auf dem Waldboden liegt, könnte ich in einer Viertelstunde hinüberrudern. Doch das ist verboten. Nur hundert Meter vom Steg entfernt, bei der spitzen, gelben Boje, die aufrecht im Wasser steht, beginnt die Sperrzone. Weitere hundert Meter dahinter markiert eine zweite Kette aus gelben Bojen die Grenze. Das andere Ufer gehört schon zu Russland. Zum Greifen nah, aber im Sommer 2023 zugleich ferner denn je, wie ein Ende der mir bekannten und vertrauten Welt. Zu friedlicheren Zeiten hätte ich mich um einen Tagesausflug nach Sortawala oder Wyborg bemüht, um wenigstens einmal für ein paar Stunden in dem fremden Land gewesen zu sein. Jetzt ist daran nicht zu denken.

Die Beklommenheit lässt sich nicht abschütteln, als ich mich losreiße und die Treppe wieder hochsteige, um das Haus von innen zu besichtigen: die unvermeidlichen Kiefernholzmöbel, das billige Linoleum zu meinen Füßen, die Küche, deren Schranktüren schief in den Angeln hängen, das spärliche Geschirr. Alles ein bisschen schäbig, alles ein bisschen runtergewirtschaftet, aber sauber und funktional.

Bisher hatte das Haus am Ende der Welt nur in meiner Fantasie existiert. Meine Protagonisten hatten sich in einem Haus und auf seinem Außengelände bewegt, das ich mir komplett ausgedacht hatte. Jetzt aber versuche ich, mir meine Charaktere in diesem Haus vorzustellen. Auf dieser Holztreppe, diesem Bootssteg, auf dem Schotterweg, der zu dieser kleinen Halbinsel führt, dem Saunamökki auf halber Strecke den Abhang hinunter. Ich beginne, den Ort durch die Augen meiner Hauptfiguren wahrzunehmen und zu fühlen, und ja, ich bin mir sicher: Hier gehören sie hin. In diese Stille, in diese Beklommenheit.

Das ist der Schauplatz.

Fotos: (c) Katrin Faludi

Buch-Countdown #1: Die Idee

„Ich schwimme auf die Boje mit dem Schriftzug RAJAVYÖHYKE zu – allein das Wort sieht schon streng aus – und drehe frustriert ab. Halte mich eine Weile parallel zur Grenzzone und bewege mich dann wieder zurück. Immer hin und her, wie ein Tiger im Zoo, der stumpfsinnig denselben Trampelpfad in seinem Gehege auf und abläuft.“

– Das Haus am Ende der Welt, S. 189

Boje im finnisch-russischen Grenzgewässer

Ich liebe Autoatlanten. In Zeiten von Google Maps genieße ich diese anachronistischen Trotzanfälle, in denen ich mich durch Straßenkarten meiner Lieblingsgegenden blättere, Namen studiere und mich an Orte träume, über die ich gerne schreiben würde. Deshalb konnte ich im Sommer 2018 während unseres Familienurlaubs in Finnland im Supermarkt nicht an einem Exemplar mit dem sperrigen Titel „Automatkailijan Suomi“ (Finnland für Autoreisende) vorbeigehen. Der Straßenatlas wurde gekauft und in den folgenden Monaten und Jahren immer wieder hervorgeholt, wenn mich die Sehnsucht nach Finnland packte. Zu dieser Zeit schrieb ich gerade an meinem Debüt „Schattenwald“ und dachte schon darüber nach, die nächste Geschichte in Finnland spielen zu lassen. Doch worüber sollte ich schreiben? Und warum gerade über dieses Land, das mich zwar fasziniert, das ich aber noch nicht besonders gut kannte?

So ist das mit den Ideen: Am Anfang steht oft eine diffuse Sehnsucht, die ich mir selbst nicht erklären kann. Sie lässt mir keine Ruhe und beginnt, im Hintergrund in mir zu arbeiten.

Das Schmökern im Autoatlas war nicht ohne Herausforderungen, denn er ist komplett auf Finnisch geschrieben, was ich nur mangelhaft beherrsche. Manche Überschrift verstand ich jedoch sofort, zum Beispiel diese: „Suomen ja Venäjän rajalla“ – An der Grenze zwischen Finnland und Russland. Die beiden Länder teilen sich eine rund 1.300 Kilometer lange Grenze, die zu Zeiten der Sowjetunion Teil des Eisernen Vorhangs war.

Meine Neugier war geweckt, denn ich hatte mich in den Jahren zuvor intensiv mit der DDR-Grenze beschäftigt. Also übersetzte ich mir den Text – und war elektrisiert. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht gewusst, dass es in Finnland bis heute eine streng gesicherte Sperrzone an der Grenze zu Russland gibt. Je nach Region misst sie wenige hundert Meter bis hin zu einigen Kilometern in der Breite und darf nur mit Sondererlaubnis des finnischen Grenzschutzes betreten werden. Warnschilder, Schlagbäume, Bojen und Markierungen sorgen dafür, dass niemand an Land oder auf dem Wasser versehentlich in diese Zone gerät.

Sofort sprang mein Kopfkino an: Wie sieht es innerhalb dieser Zone und unmittelbar an der Grenzlinie aus? Was passiert mit Menschen, die sich unerlaubt dort bewegen? Wie wird das Ganze überwacht? Was erleben die Anwohner in dieser Region? Gibt es illegale Grenzübertritte, Schmuggel und dergleichen?

Während meine Fantasie sich warmlief, begann ich zu recherchieren. Ich las über die beiden sowjetischen Überfälle auf Finnland während des Zweiten Weltkriegs, denen das kleine Volk vehement trotzte und der Sowjetarmee eine Niederlage sowie empfindliche Verluste bescherte. Dennoch musste Finnland nach dem Fortsetzungskrieg weite Teile Kareliens an Russland abtreten. Ich recherchierte weiter: Wie viel Finnland ist im heutigen russischen Teil Kareliens übrig geblieben? Gibt es dort noch Menschen, die die alte karelische Sprache sprechen? – Kaum. Die meisten Karelier sind damals ins finnische Kernland geflohen, viele Dörfer verfielen, und die Sowjetunion siedelte Menschen aus anderen Teilen ihres Reiches in der Region an. Heute leben auf russischer Seite nur noch wenige ethnische Karelier, die ihre Traditionen und ihre Sprache pflegen.

Ich reiste mit Google Maps und Street View an die Orte, las Berichte des Finnischen Rundfunks über Menschen, die mitten in der Sperrzone leben, und sog alles auf, was ich zu diesem Thema finden konnte. Der Google Übersetzer glühte mit meinem Eifer um die Wette.

Landschaft in Südkarelien

Keine Frage, ich war so fasziniert, dass ich mir diese Region, über die ich nun so viel gelesen hatte, mit eigenen Augen ansehen wollte. Zugleich formten sich in meiner Vorstellung Figuren, die sich in diesem Setting bewegen – entlang der physischen Grenzzone, ihre eigenen, inneren Grenzen auslotend. Eine Geschichte begann, sich zu formen …

Inzwischen waren mehrere Jahre vergangen, und ich überlegte immer lauter, im nächsten Sommerurlaub mit der Familie wieder nach Finnland zu fahren. Nach Karelien, an den Schauplatz der Geschichte, die in meinen Gedanken immer mehr Raum einnahm. Doch die Anreise war teuer, und was sollten wir als Familie in einem Landstrich anstellen, in dem man sich nicht in alle Richtungen frei bewegen darf? Ich fürchtete, dass der Rest der Familie sich dort am Ende nur langweilen würde. Deshalb buchten wir für 2023 ganz brav unseren Schwedenurlaub.

Doch dieses eine Ferienhaus in Südkarelien, das bei meinen Recherchen immer wieder aufgetaucht war, dessen Räume und Umgebung ich schon auswendig zu kennen schien, ließ mich nicht los. Dort wollte ich hin.

Nur, wie sollte ich das anstellen?

Fotos: (c) Katrin Faludi

Blog-Countdown zum Buchstart: 12 Wochen, 12 Artikel

Ab dem 12.12. gibt es hier etwas Neues zu lesen! Um euch die Wartezeit bis zum Buchstart im März 2025 ein wenig zu verkürzen, veröffentliche ich 12 Wochen lang an jedem Donnerstag einen neuen Artikel mit Hintergründen zu „Das Haus am Ende der Welt“ und seiner Entstehungsgeschichte.

Wie hat ein finnischer Straßenatlas den ersten Ideenfunken gezündet? Welches Wunder am Wegrand hat meine Schauplatzrecherche in Südkarelien zu einem unvergesslichen Erlebnis gemacht? Wie sind die Figuren entstanden, haben sie reale Vorbilder und welche Rolle spielen Grenzen, Freiheit und Wahrhaftigkeit in der Geschichte? Das und vieles mehr erfährst du Woche für Woche in einem neuen Blogartikel.

Zu jedem Artikel gibt es als kleines Extra ein passendes Snippet aus dem Buch und Bilder von der Recherchereise nach Finnland. Also: Jetzt schon eingrooven und tiefer einsteigen, wenn du „Das Haus am Ende der Welt“ im März endlich lesen kannst!

Premieren-Lesung am 21. März 2025 in Bad Vilbel

Der Termin für die Premieren-Lesung steht! Ich freue mich sehr, dass er nicht nur in meiner Heimat stattfindet, sondern sogar in meiner Kirchengemeinde, der ich seit vielen Jahren verbunden bin! Also, raus mit dem Kalender, Termin eintragen und natürlich: Am 21. März 2025 um 19 Uhr in den Gemeindesaal der Christuskirche Bad Vilbel kommen! Der Eintritt ist frei.

Übrigens: Wer vor Ort ein Buch kauft, bekommt es selbstverständlich auf Wunsch mit persönlicher Widmung. Oder ganz einfach jetzt schon vorbestellen und zum Signieren einfach mitbringen.

Sehen wir uns?