Buch-Countdown #12: Die Persönlichkeit

„Putin guckt, als wisse er genau, wer im Fahrstuhl gefurzt hat.“

– Das Haus am Ende der Welt, S. 372

Katrin Faludi: Schattenwald

Neulich fragte mich eine Buchbloggerin in einem Interview, mit welcher Figur aus meinem Romandebüt Schattenwald ich mich am meisten identifiziere. Eine spannende Frage, denn meine Antwort lautet nicht automatisch: „Mit Sara, der Hauptfigur, natürlich!“ Vielleicht fühle ich mich sogar ein kleines bisschen mehr mit ihrer Mutter Eva verbunden, die im Buch als Antagonistin auftaucht. Sara habe ich Eigenschaften angedichtet, die nicht so sehr meine eigenen sind: Hartnäckigkeit, Sportlichkeit und eine gewisse Unerschrockenheit. Ich wäre selbst gerne ein wenig mehr wie sie. Das ist das Schöne an Romanfiguren: Man kann sie mit eigenen Wünschen aufladen.

Während ich Sara ein wenig idealisiert habe, tue ich bei Eva das Gegenteil: Sie zaudert mehr als ich, ist misstrauischer und ängstlicher. Aber ich habe ihr eine meiner großen Leidenschaften angedichtet: Sie hat einen Sprachenfimmel – und zwar weitaus stärker als ich selbst. Eva spricht etliche Sprachen fließend (was ich gerne könnte) und legt zu Übungszwecken arabische Buchstaben aus Lakritzschnecken (was mir niemals einfallen würde!). Aber dass ich, wie sie, mit einem Grammatikbuch auf einer Sonnenliege entspanne, kann durchaus vorkommen – nur habe ich währenddessen noch nie ein tragisches Unglück verursacht.

Offenbar lade ich meine Hauptfiguren mit meinen eigenen, als positiv oder negativ empfundenen Eigenschaften auf. Das ist auch in Das Haus am Ende der Welt so. Als meine Lektorin meinte, mein Protagonist Henning sei manchmal „eine ganz schöne Lusche“, hatte sie recht. Das bin ich nämlich auch öfter mal. Genau wie er neige ich gelegentlich zu Feigheit und komme nicht aus dem Quark. Diese zwei Charakterfehler muss der Gute in der Geschichte überwinden, so wie ich in meinem eigenen Leben immer wieder damit kämpfe.

Die weibliche Hauptfigur Taina wiederum ringt um Zugehörigkeit und Unabhängigkeit – ein totales Dilemma, das auch mir selbst nicht fremd ist. Wie oft wünsche ich mir, mein gesamtes Umfeld in die Wüste zu schicken und fürchte mich zugleich davor, einsam zu sein! Wie Taina bin auch ich immer diejenige gewesen, die in ihrer Herkunftsfamilie am Rande stand, weil ich das Gefühl hatte, anders als die anderen zu sein und nicht richtig dazuzugehören. Das ist zu einem Lebensthema für mich geworden, denn ich tue mich grundsätzlich schwer, mich irgendwo wirklich zugehörig zu fühlen.

Wie ich an anderer Stelle schon geschrieben habe: Nichts an der Geschichte habe ich selbst so erlebt und die Figuren sind komplett ausgedacht. Aber natürlich steckt viel von mir drin. Auch mein Hang zu Albernheiten scheint immer wieder durch. Ich hatte großen Spaß daran, die Figur Mikko zu schreiben, Tainas finnischen Cousin, der immer wieder für humorvolle Entspannung sorgt, wenn die Handlung zu sehr ins Schwermütige abzudriften droht. Für ihn habe ich mir einen wunderbaren Running Gag ausgedacht – ganz einfach, weil ich Running Gags liebe. Ein bis zwei tauchen in jeder Geschichte auf.

Wer mir auf Instagram folgt, muss den Eindruck bekommen, dass ich eine durch und durch alberne Person bin. Und es stimmt, wenn es etwas zu scherzen gibt, schmunzele ich nicht nur gerne mal ein bisschen, sondern bin vorne mit dabei. Mir ist sehr bewusst, dass ich den Bogen hin und wieder überspanne. Aber es ist so schwer, aufzuhören, wenn es am schönsten ist! Ich bringe einfach gerne andere Menschen zum Lachen. Auf Instagram habe ich eine wunderbare Spielwiese gefunden und kaspere begeistert darauf herum.

Als ich dort noch neu war und meinen Psychothriller Schattenwald bewerben wollte, schaute ich mir an, wie andere Psychothriller-Autorinnen das machten. Manche gaben sich demonstrativ böse und düster, kokettierten mit ihrer „Abgefucktheit“ und ihrem „kranken Hirn“. Das wirkte auf mich viel zu aufgesetzt. So wollte ich nicht auftreten, denn ich habe zwar einen Thriller geschrieben, bin aber ansonsten eigentlich überwiegend heiter, mit gelegentlicher depressiver Tendenz. Also habe ich beschlossen, mein Profil so zu gestalten, wie es mir Spaß macht. Das war die richtige Entscheidung, auch wenn ich mich followermäßig nie unter den Krimi- und Thrillertanten etabliert habe. Dafür folgen mir viele, die meinen Humor schätzen.

Finnischer Eierbecher

Ich fürchte allerdings, dass durch meinen Social-Media-Auftritt die Erwartung entstanden ist, meine Bücher wären genauso albern wie ich selbst. Wer mich nur über Instagram kennt, wird wahrscheinlich überrascht sein, wie anders Das Haus am Ende der Welt ist. Tiefgründiger und melancholischer als ich mich üblicherweise gebe. Aber – keine Angst! – stellenweise auch wirklich lustig. Denn eine gute Geschichte bildet viele verschiedene Gefühle ab und darf sowohl zum Lachen als auch zum Weinen anregen.

Fazit: Das Haus am Ende der Welt ist ein sehr, sehr persönlich geprägtes Buch, das vieles von dem abbildet, was ich im wahren Leben bin: nach Zugehörigkeit und Unabhängigkeit strebend, mal feige, mal luschig, mal heiter-gelassen oder durchweg albern. Mal tiefgründig und melancholisch, dann wieder zornig und impulsiv. Ein Buch mit vielen Persönlichkeitsfacetten – wie im wahren Leben auch. Ich wünsche dir viel Spaß beim Lesen und Entdecken!

Fotos: (c) Katrin Faludi

Buch-Countdown #11: Der Glaube

„Gott kann das unmöglich gewollt haben: Ihr Leben, das es gar nicht geben dürfte, den Widerspruch, als der sie lebt und atmet und denkt. Wie soll sie jemals wieder Würde empfinden können?“

– Das Haus am Ende der Welt, S. 371

Einer der aufregendsten Momente im Schriftstellerleben ist es, erstmals ein Rohmanuskript an Testleser herauszugeben. Wenn nach einiger Zeit die erste E-Mail mit dem Betreff „Feedback“ eintrudelt, schießt mir jedes Mal das Blut in den Kopf, und ich traue mich zunächst gar nicht, darauf zu klicken. Was, wenn das, worin ich viele Monate lang mein ganzes Herzblut hineingeschüttet habe, neben höflichem Eingangslob vor allem auf Kritik stößt? Wenn mein Text längst nicht so genial ist, wie mein verletzliches Ego es sich erhofft hat?

Vor gut einem Jahr schickte ich die Rohfassung von Das Haus am Ende der Welt an meinen Testleserkreis und bat aufgrund des großen Umfangs von über 500 Normseiten um Feedback innerhalb von sechs Wochen. Ich richtete mich auf langes Zittern ein, doch die ersten Rückmeldungen trafen schon nach drei oder vier Tagen ein. Das war ein gutes Zeichen. Eine Leserin schrieb, sie habe sich mit dem Manuskript fast die gesamte letzte Nacht um die Ohren geschlagen, weil sie so tief in die Geschichte abgetaucht war.

Dieses Lob wirkte sich sehr positiv auf meinen Blutdruck aus. Der Schluss fiel zwar komplett durch (viel zu heiteitei), aber das war kein Drama. Nach zwei Überarbeitungsdurchgängen fand ich ein stimmiges Ende, das genug Stoff zum Weiterdenken bietet.

Trotzdem gaben mir die ersten beiden Testleserinnen eine harte Nuss zu knacken: „An den Stellen, an denen es um Gott ging, bin ich komplett ausgestiegen!“, lautete die Kritik unter anderem. Das hatte ich befürchtet und ein Stück weit auch erwartet, weil ich wusste, dass die beiden Leserinnen nicht gläubig sind. Sie empfahlen mir, von meinem christlichen Verlag wegzuwechseln, den Glauben aus künftigen Büchern rauszulassen und mir einen „richtigen“ Verlag zu suchen, weil ich „so viel mehr könne als das“.

Finnisch-orthodox

Das kann ich nachvollziehen. Und ich schließe auch keinesfalls aus, mein Glück später vielleicht bei einem „normalen“ (sprich: säkularen) Verlag zu suchen, wohl wissend, dass es extrem schwer ist, bei den großen Publikumsverlagen unterzukommen. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dies sei nicht mein Ziel.

Momentan jedoch bin ich bei meinem kleinen christlichen Verlag unter Vertrag, habe ein sehr gutes Verhältnis zu den Mitarbeitenden dort und erfahre viel Wertschätzung für meine Arbeit. Dieses Haus hat es mir überhaupt erst ermöglicht, Schriftstellerin zu werden und dafür bin ich sehr dankbar. Wohin mich mein Weg künftig führen wird, ist mir im Augenblick überhaupt nicht klar. Ich konzentriere mich jetzt erst einmal darauf, dass Das Haus am Ende der Welt erscheint.

Natürlich lautet die Vorgabe in einem explizit christlichen Verlag, eben solche Inhalte zu vermitteln, was für mich grundsätzlich kein Problem ist, da ich gläubige Christin bin. Ich sehe jedoch auch, dass es immer schwieriger wird, Glaubensinhalte zu kommunizieren. Der Gegenwind wird rauer. Unsere Gesellschaft ist in weiten Teilen säkular, Glaube gilt als Privatsache, und man wird kritisch oder mitleidig beäugt, wenn man anderen mit seinen naiven Vorstellungen vom „lieben Gott“ zu nahekommt. Das ist mir bewusst. Ich war selbst einmal Atheistin und habe mit Verachtung auf alles Christliche herabgeschaut, weil ich es für überholt und unnötig hielt. Deshalb kann ich Kritik aus dieser Richtung sehr gut nachvollziehen.

Inzwischen prägt der Glaube mein Leben und damit auch mein Schreiben. Selbst wenn ich ihn nicht explizit in meine Geschichten einbaue, scheint er doch mit meinen Werten durch. In meinen Büchern im christlichen Verlag baue ich ihn in dezenter Weise ein.

Tsasouna - finnisch-orthodoxes Gebetshaus

Das ist jedes Mal eine extreme Gratwanderung. Ich möchte, dass meine Bücher für alle lesbar sind: Christen, Anders- oder Nichtgläubige. Das ist mir bei Schattenwald meines Erachtens gut gelungen. Von hundert begeisterten Rückmeldungen mokierten sich vielleicht ein oder zwei Leserinnen über das „Gottgeschwurbel“ an zwei Stellen im Buch. Manche nichtgläubige Leserinnen äußerten sich sogar überrascht darüber, dass ein christliches Buch sich so gut lesen ließ, denn sie hatten den „Holzhammer“ erwartet. Auf überfrommes Gesülze reagiere ich aber selbst allergisch.

Ich finde es sehr schwierig, Glaubensinhalte so in ein Buch einzuweben, dass sie einerseits bei „religiös musikalischen Menschen“ die richtigen Saiten zum Schwingen bringen, andererseits aber keine Leser vergraulen, die damit gar nichts anfangen können. Vielleicht ist das auch kaum möglich, man kann schließlich nicht alle zufriedenstellen.

Im Austausch mit Autorinnen aus christlichen Verlagen habe ich erfahren, dass sich fast alle solche Gedanken machen: Was können wir tun, damit unsere Bücher auch außerhalb der „christlichen Bubble“ wahrgenommen werden? Wie gewichten wir die Glaubensthemen und wie kommunizieren wir sie, ohne Leser damit abzuschrecken?

Ich begnüge mich zurzeit mit dem Gedanken, dass meine Leserinnen und Leser erwachsene Menschen sind, die das für sich selbst differenzieren können und toleranzfähig sind. So wie ich bei durch und durch atheistischen Romanen wie Eine Frage der Chemie am Ende sagen kann: „Die Geschichte war gut, aber die atheistischen Stellen haben mir nicht gefallen. War insgesamt aber ein lesenswertes Buch.“ So ungefähr wünsche ich mir das auch bei meinen Leserinnen und Lesern.

Und falls die Geschichte doch jemanden dazu anregt, seinen Standpunkt zu überdenken, finde ich das schön. Die Credits dafür gebe ich dann gerne weiter „nach oben“.

Fotos: (c) Katrin Faludi

Buch-Countdown #10: Die Sprache

„In dem Moment kommt Mikko um die Ecke, in seinen unvermeidlichen schwarzen Gummilatschen und mit einem Plastikbeutel in der Hand, dessen Inhalt wie türkische Pide aussieht. Mit zusammengezogenen Brauen mustert er mich, wie ich da tropfnass in Badehosen neben meinem Koffer stehe und auf die verschlossene Tür starre.
‚Stör ich?‘
‚Ganz und gar nicht. Vielleicht kennst du ein finnisches Zauberwort, um diese Tür hier aufzukriegen?‘
Alohomora‘, schlägt er vor.
Das klingt in der Tat finnisch.“

– Das Haus am Ende der Welt, S. 191

Kanankakka

Ich war schon als Kind ein ziemlicher Geek. Mit 9 Jahren ging ich meiner Umwelt mit einem ausgeprägten Dinosaurierfimmel auf die Nerven. Mit 11 Jahren zerschnitt ich meine Pferdezeitschriften, gestaltete daraus neue Magazine und verschenkte sie weiter, was mich zum Gespött der cooleren Klassenkameradinnen machte, die das kindisch fanden. Mit 13 übersetzte ich mir im Schwedenurlaub aus lauter Langeweile meine Comic-Magazine von der Supermarktkasse mit Mutters Schwedisch-Lexikon aus den Sechzigerjahren eigenständig ins Deutsche und entdeckte dabei, dass ich wohl ein Händchen für Sprache habe.

Damit wurde ich zum Sprachen-Nerd – ein eher einsames Hobby für einen Teenager. Ich investierte mein Taschengeld in Sprachführer und Wörterbücher (Isländisch, Norwegisch, und wenn es sein musste, sogar Färöisch), lieh mir in der Bücherei Dänischkurse aus und verabredete mit meiner französischen Brieffreundin, dass wir uns gegenseitig unsere Briefe korrigierten. Am Frühstückstisch studierte ich aufmerksam die fremdsprachigen Zutatenlisten auf Saft- und Müslikartons. Ich liebte das niederländische Wort sinaasappelsap und schüttelte über die vielen Äs, Ös und Ys im Finnischen den Kopf.

Finnische Waschmaschine

Wo wir schon bei Ys und Ös sind: Dieses Finnische wirkte auf mich äußerst mysteriös – oder auch myysteriöös, weil die Sprache in gedruckter Form so aussah, als wäre der Schreiber bei bestimmten Buchstaben auf der Tastatur liegend eingeschlafen. Während mir die meisten Sprachen irgendwie vertraut erschienen und ich vom Skandinavischen gar nicht genug bekommen konnte, so wirkte Finnisch auf mich immer geheimnisvoll und verrückt – ja, fast unantastbar. Es schien, als wolle diese Sprache jeden, der sie nicht kannte, mit ihrem komplexen Aussehen auf Distanz halten.

Aber nicht mit mir. Nach meinem Schuljahr in den USA war ich sattelfest im Englischen, ich hatte in der Schule Französisch und etwas Spanisch gelernt und nach dem Abi genug Portugiesisch, um mich bei meinen Reisen nach Brasilien, Portugal und den Kapverden einigermaßen verständigen zu können. An der Uni ging ich während meines Amerikanistik-Studiums drei Semester lang bei den Skandinavisten fremd und belegte Schwedischkurse. Gerne hätte ich auch Finnisch ausprobiert, doch das bot meine Uni nicht an – und als ich im Programmheft der VHS einen Anfängerkurs entdeckte, fiel dieser aus, weil ich als einzige Teilnehmerin erschien. Geek, eben.

Blieb mir nur das Selbststudium. Denn irgendwie ließ mich dieses rätselhafte Konstrukt von Sprache nicht los. Ich wollte das Geheimnis der scheinbar endlosen Wortkaskaden und der angeblich 15 Fälle entschlüsseln. Wie funktionierte das Ganze? Ich investierte mein Geld aus Studentenjobs in Finnisch-Lehrbücher und Grammatiken, stieß jedoch schnell an meine Grenzen. Nach meiner USA-Erfahrung weiß ich, dass man eine Sprache nur in einem Umfeld richtig lernt, in dem sie aktiv gesprochen wird. Aber wer spricht hier schon Finnisch?

Ich habe die Sprache nie richtig erlernt, aber mich die letzten 20 Jahre immer wieder damit beschäftigt. Inzwischen glaube ich, die wesentlichen Funktionen einigermaßen zu durchschauen, ohne Finnisch alltagstauglich sprechen zu können. Trotzdem macht es mir Spaß, Artikel zu enträtseln, Songtexte zu übersetzen und ich folge bestimmt einem halben Dutzend finnischer Sprach-Influencer in den sozialen Netzwerken. Ich habe nicht mehr den Anspruch, die Sprache beherrschen zu wollen. Ich erfreue mich einfach an ihrem Klang, ihren Eigenheiten und dem Gefühl, ein Stück des Geheimnisses für mich gelüftet zu haben.

Flughafenbuchhandlung in Helsinki

Natürlich musste ich, wenn ich schon ein Buch schreibe, das in Finnland spielt, auch ein wenig von der Sprache einbauen – einfach, weil ich Spaß daran habe. Deshalb werdet ihr in Das Haus am Ende der Welt immer wieder einige Wörter oder Sätze auf Finnisch finden. Weil ich mir nicht ganz sicher war, ob ich die Sprache richtig angewandt habe, hat eine finnischsprechende Kollegin für mich einen „Bullshit-Check“ durchgeführt, den ich – bis auf eine Kleinigkeit – bestanden habe. Und warum der Kaffee in diesem Fall nicht kahvi, sondern kahvia heißt … ach, das erspare ich euch. Ich hoffe einfach, dass die Freude an der Sprache in Das Haus am Ende der Welt durchscheint, denn damit ist eine meiner großen Leidenschaften in das Buch eingeflossen. Vielleicht steckt sie ja ein wenig an. Das fände ich schön.

Fotos: (c) Katrin Faludi

Buch-Countdown #9: Die Recherche

„Die Holzhäuser hatten farbenfrohe Dächer. Auf Hinweistafeln und Geschäftsschildern sah sie nur kyrillische Buchstaben, die sie nicht entziffern konnte, und die Stromleitungen spannten sich wie dicke Lakritzschnüre hoch über beiden Straßenrändern. Hin und wieder waren Hundehalter auf einer späten Gassirunde zu sehen. Und Isä hatte immer behauptet, zwischen ihrem Haus und dem Ufer des gewaltigen Ladogasees würde keine Menschenseele leben! Niemandsland, endlose Wälder. Wie viele Lügen hatte er ihr noch erzählt?“

– Das Haus am Ende der Welt, S. 341

Straße in Südkarelien / Finnland

Vor einigen Jahren stieß ich im Internet auf ein Spiel, in dem man per Zufallsgenerator auf Streetview an einen beliebigen Ort geworfen wird und allein anhand der Bilder herausfinden muss, wo genau man sich befindet. Für einen Landkarten-Nerd wie mich das perfekte Spiel! Ich scrollte stundenlang wohlig über brasilianische Matschpisten aus roter Erde, folgte französischen Serpentinen und wurde fast wahnsinnig angesichts endloser schnurgerader, eintöniger Landstraßen durch die russische Taiga. Aber: Ich fand immer heraus, wo ich mich auf der Landkarte befand!

Was hat das mit Buchrecherche zu tun?
Nun, die oben genannte Buchpassage hätte ich ohne Google Streetview nicht schreiben können. Ein kleiner Teil von Das Haus am Ende der Welt spielt im russischen Teil Kareliens, doch es war mir leider nicht möglich, die Orte selbst zu besuchen. Das ärgert mich im Nachhinein noch immer, denn die genaue Schilderung der Schauplätze ist mir sehr wichtig. Allerdings nehme ich auch Reisewarnungen ernst. So musste ich mich damit begnügen, wenigstens den finnischen Teil der Geschichte – der zum Glück weitaus größer ist – so wahrheitsgemäß wie möglich zu schreiben.

Aber zum Glück gibt es Streetview, um wenigstens einen kleinen Eindruck von den Örtlichkeiten zu bekommen. Man sollte sich allerdings nicht zu sehr darauf verlassen, denn Jahreszeit und Wetter können diesen Eindruck schnell trüben. So habe ich vor meiner Reise ins finnische Karelien bereits die Straßen in der Nähe meines Mökkis mit Streetview erkundet und fand dort eine äußerst deprimierende Landschaft im herbstlichen Nebel vor. Als ich dieselben Straßen dann zu Fuß erwanderte, strahlte die Sonne vom Himmel, die Wiesen blühten und die Einsamkeit der Gegend hatte nichts Düsteres an sich, sondern wirkte äußerst erholsam.

Straßenschild in Südkarelien / Finnland

Ich habe aber nicht nur auf Kartendiensten recherchiert, sondern mich zu vielen verschiedenen Themen im finnischsprachigen Internet bewegt. Die Online-Übersetzerdienste waren in diesem Fall Gold wert. Ich las alles, was ich über den finnischen Grenzschutz herausfinden konnte, studierte wissenschaftliche Arbeiten über die Ostgrenze und ihre Auswirkungen auf die Bevölkerung auf beiden Seiten, las Abhandlungen über die Scharfschützen im finnischen Winterkrieg von 1940 und fand auf dem Internetauftritt des finnischen Rundfunks Reportagen über alte Menschen, die ihr gesamtes Leben in Häusern unmittelbar an der russischen Grenze verbracht haben. Ich schmökerte mich durch Flüchtlings- und Schmugglergeschichten, kannte bald die Verhaltensregeln für die Grenzzone auswendig und wusste, dass die Russen angeblich ganz heiß auf eine bestimmte Sorte finnischen Käses waren, sodass dieser in den grenznahen Läden rationiert werden musste.

Kurz gesagt: Das allermeiste von dem, was mir während meiner Recherche begegnete, findet hier zum ersten Mal Erwähnung. In die Geschichte hat es nur ein Bruchteil geschafft. Trotzdem hat mir all das geholfen, die Gegend, über die ich schreiben wollte, ein wenig besser zu verstehen. Nichts davon jedoch kann die Eindrücke ersetzen, die man persönlich vor Ort gewinnt.

Deshalb bedaure ich noch immer, für den kleinen russischen Teil der Geschichte nicht an die entsprechenden Orte gereist zu sein. Sollte ich es eines Tages doch einmal tun, so fürchte ich, mir am Ende die Haare über das zu raufen, was ich da geschrieben habe. Denn auch die Recherche im russischen Internet war alles andere als einfach. Das fing schon bei der Schrift an.

Ich kann kyrillische Schrift lesen, wenn auch nicht so flüssig wie die lateinische. Während ich bei den finnischen Internetseiten zumindest eine grobe Idee davon bekam, worum es ging, stand ich bei den russischen Seiten aber meist völlig auf dem Schlauch. Das Übersetzen mit den üblichen Diensten dauerte länger und war mühsamer. Außerdem waren viele der Informationen, die ich brauchte, kaum zu bekommen. Wie ist der Grenzschutz genau strukturiert? Welche Dienstgrade gibt es? Wo sind die Truppen stationiert? Wie sehen die Gebäude dazu aus? Manches davon bekam ich heraus, anderes nicht. Und je tiefer ich grub, desto größer wurde die Sorge: Was, wenn ich mir dadurch jetzt auch noch irgendwelche Geheimdienstler auf die Fersen hefte? Vielleicht verhalte ich mich mit meinen Suchanfragen zu auffällig? Manchmal wurde mir wirklich etwas mulmig.

Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich mit solcher Recherche verbrachte, aber es waren etliche, und oft reichten sie bis tief in die Nacht hinein. Irgendwann jedoch kommt der Punkt, an dem man Recherche Recherche sein lassen und anfangen muss zu schreiben. Das fiel mir beim russischen Teil schwer, da ich das Gefühl hatte, nicht so authentisch darüber schreiben zu können wie über den finnischen. Dort steckt weitaus mehr Fantasie drin, und das lasse ich nun so stehen.

Aber irgendwann – wenn die politische Lage es wieder zulässt – werde ich mir die Grenze von der anderen Seite ansehen! Wer weiß, wozu mich das inspiriert?

Fotos: (c) Katrin Faludi