„Die Holzhäuser hatten farbenfrohe Dächer. Auf Hinweistafeln und Geschäftsschildern sah sie nur kyrillische Buchstaben, die sie nicht entziffern konnte, und die Stromleitungen spannten sich wie dicke Lakritzschnüre hoch über beiden Straßenrändern. Hin und wieder waren Hundehalter auf einer späten Gassirunde zu sehen. Und Isä hatte immer behauptet, zwischen ihrem Haus und dem Ufer des gewaltigen Ladogasees würde keine Menschenseele leben! Niemandsland, endlose Wälder. Wie viele Lügen hatte er ihr noch erzählt?“

– Das Haus am Ende der Welt, S. 341

Straße in Südkarelien / Finnland

Vor einigen Jahren stieß ich im Internet auf ein Spiel, in dem man per Zufallsgenerator auf Streetview an einen beliebigen Ort geworfen wird und allein anhand der Bilder herausfinden muss, wo genau man sich befindet. Für einen Landkarten-Nerd wie mich das perfekte Spiel! Ich scrollte stundenlang wohlig über brasilianische Matschpisten aus roter Erde, folgte französischen Serpentinen und wurde fast wahnsinnig angesichts endloser schnurgerader, eintöniger Landstraßen durch die russische Taiga. Aber: Ich fand immer heraus, wo ich mich auf der Landkarte befand!

Was hat das mit Buchrecherche zu tun?
Nun, die oben genannte Buchpassage hätte ich ohne Google Streetview nicht schreiben können. Ein kleiner Teil von Das Haus am Ende der Welt spielt im russischen Teil Kareliens, doch es war mir leider nicht möglich, die Orte selbst zu besuchen. Das ärgert mich im Nachhinein noch immer, denn die genaue Schilderung der Schauplätze ist mir sehr wichtig. Allerdings nehme ich auch Reisewarnungen ernst. So musste ich mich damit begnügen, wenigstens den finnischen Teil der Geschichte – der zum Glück weitaus größer ist – so wahrheitsgemäß wie möglich zu schreiben.

Aber zum Glück gibt es Streetview, um wenigstens einen kleinen Eindruck von den Örtlichkeiten zu bekommen. Man sollte sich allerdings nicht zu sehr darauf verlassen, denn Jahreszeit und Wetter können diesen Eindruck schnell trüben. So habe ich vor meiner Reise ins finnische Karelien bereits die Straßen in der Nähe meines Mökkis mit Streetview erkundet und fand dort eine äußerst deprimierende Landschaft im herbstlichen Nebel vor. Als ich dieselben Straßen dann zu Fuß erwanderte, strahlte die Sonne vom Himmel, die Wiesen blühten und die Einsamkeit der Gegend hatte nichts Düsteres an sich, sondern wirkte äußerst erholsam.

Straßenschild in Südkarelien / Finnland

Ich habe aber nicht nur auf Kartendiensten recherchiert, sondern mich zu vielen verschiedenen Themen im finnischsprachigen Internet bewegt. Die Online-Übersetzerdienste waren in diesem Fall Gold wert. Ich las alles, was ich über den finnischen Grenzschutz herausfinden konnte, studierte wissenschaftliche Arbeiten über die Ostgrenze und ihre Auswirkungen auf die Bevölkerung auf beiden Seiten, las Abhandlungen über die Scharfschützen im finnischen Winterkrieg von 1940 und fand auf dem Internetauftritt des finnischen Rundfunks Reportagen über alte Menschen, die ihr gesamtes Leben in Häusern unmittelbar an der russischen Grenze verbracht haben. Ich schmökerte mich durch Flüchtlings- und Schmugglergeschichten, kannte bald die Verhaltensregeln für die Grenzzone auswendig und wusste, dass die Russen angeblich ganz heiß auf eine bestimmte Sorte finnischen Käses waren, sodass dieser in den grenznahen Läden rationiert werden musste.

Kurz gesagt: Das allermeiste von dem, was mir während meiner Recherche begegnete, findet hier zum ersten Mal Erwähnung. In die Geschichte hat es nur ein Bruchteil geschafft. Trotzdem hat mir all das geholfen, die Gegend, über die ich schreiben wollte, ein wenig besser zu verstehen. Nichts davon jedoch kann die Eindrücke ersetzen, die man persönlich vor Ort gewinnt.

Deshalb bedaure ich noch immer, für den kleinen russischen Teil der Geschichte nicht an die entsprechenden Orte gereist zu sein. Sollte ich es eines Tages doch einmal tun, so fürchte ich, mir am Ende die Haare über das zu raufen, was ich da geschrieben habe. Denn auch die Recherche im russischen Internet war alles andere als einfach. Das fing schon bei der Schrift an.

Ich kann kyrillische Schrift lesen, wenn auch nicht so flüssig wie die lateinische. Während ich bei den finnischen Internetseiten zumindest eine grobe Idee davon bekam, worum es ging, stand ich bei den russischen Seiten aber meist völlig auf dem Schlauch. Das Übersetzen mit den üblichen Diensten dauerte länger und war mühsamer. Außerdem waren viele der Informationen, die ich brauchte, kaum zu bekommen. Wie ist der Grenzschutz genau strukturiert? Welche Dienstgrade gibt es? Wo sind die Truppen stationiert? Wie sehen die Gebäude dazu aus? Manches davon bekam ich heraus, anderes nicht. Und je tiefer ich grub, desto größer wurde die Sorge: Was, wenn ich mir dadurch jetzt auch noch irgendwelche Geheimdienstler auf die Fersen hefte? Vielleicht verhalte ich mich mit meinen Suchanfragen zu auffällig? Manchmal wurde mir wirklich etwas mulmig.

Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich mit solcher Recherche verbrachte, aber es waren etliche, und oft reichten sie bis tief in die Nacht hinein. Irgendwann jedoch kommt der Punkt, an dem man Recherche Recherche sein lassen und anfangen muss zu schreiben. Das fiel mir beim russischen Teil schwer, da ich das Gefühl hatte, nicht so authentisch darüber schreiben zu können wie über den finnischen. Dort steckt weitaus mehr Fantasie drin, und das lasse ich nun so stehen.

Aber irgendwann – wenn die politische Lage es wieder zulässt – werde ich mir die Grenze von der anderen Seite ansehen! Wer weiß, wozu mich das inspiriert?

Fotos: (c) Katrin Faludi


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