„Ich schwimme auf die Boje mit dem Schriftzug RAJAVYÖHYKE zu – allein das Wort sieht schon streng aus – und drehe frustriert ab. Halte mich eine Weile parallel zur Grenzzone und bewege mich dann wieder zurück. Immer hin und her, wie ein Tiger im Zoo, der stumpfsinnig denselben Trampelpfad in seinem Gehege auf und abläuft.“
– Das Haus am Ende der Welt, S. 189
Ich liebe Autoatlanten. In Zeiten von Google Maps genieße ich diese anachronistischen Trotzanfälle, in denen ich mich durch Straßenkarten meiner Lieblingsgegenden blättere, Namen studiere und mich an Orte träume, über die ich gerne schreiben würde. Deshalb konnte ich im Sommer 2018 während unseres Familienurlaubs in Finnland im Supermarkt nicht an einem Exemplar mit dem sperrigen Titel „Automatkailijan Suomi“ (Finnland für Autoreisende) vorbeigehen. Der Straßenatlas wurde gekauft und in den folgenden Monaten und Jahren immer wieder hervorgeholt, wenn mich die Sehnsucht nach Finnland packte. Zu dieser Zeit schrieb ich gerade an meinem Debüt „Schattenwald“ und dachte schon darüber nach, die nächste Geschichte in Finnland spielen zu lassen. Doch worüber sollte ich schreiben? Und warum gerade über dieses Land, das mich zwar fasziniert, das ich aber noch nicht besonders gut kannte?
So ist das mit den Ideen: Am Anfang steht oft eine diffuse Sehnsucht, die ich mir selbst nicht erklären kann. Sie lässt mir keine Ruhe und beginnt, im Hintergrund in mir zu arbeiten.
Das Schmökern im Autoatlas war nicht ohne Herausforderungen, denn er ist komplett auf Finnisch geschrieben, was ich nur mangelhaft beherrsche. Manche Überschrift verstand ich jedoch sofort, zum Beispiel diese: „Suomen ja Venäjän rajalla“ – An der Grenze zwischen Finnland und Russland. Die beiden Länder teilen sich eine rund 1.300 Kilometer lange Grenze, die zu Zeiten der Sowjetunion Teil des Eisernen Vorhangs war.
Meine Neugier war geweckt, denn ich hatte mich in den Jahren zuvor intensiv mit der DDR-Grenze beschäftigt. Also übersetzte ich mir den Text – und war elektrisiert. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht gewusst, dass es in Finnland bis heute eine streng gesicherte Sperrzone an der Grenze zu Russland gibt. Je nach Region misst sie wenige hundert Meter bis hin zu einigen Kilometern in der Breite und darf nur mit Sondererlaubnis des finnischen Grenzschutzes betreten werden. Warnschilder, Schlagbäume, Bojen und Markierungen sorgen dafür, dass niemand an Land oder auf dem Wasser versehentlich in diese Zone gerät.
Sofort sprang mein Kopfkino an: Wie sieht es innerhalb dieser Zone und unmittelbar an der Grenzlinie aus? Was passiert mit Menschen, die sich unerlaubt dort bewegen? Wie wird das Ganze überwacht? Was erleben die Anwohner in dieser Region? Gibt es illegale Grenzübertritte, Schmuggel und dergleichen?
Während meine Fantasie sich warmlief, begann ich zu recherchieren. Ich las über die beiden sowjetischen Überfälle auf Finnland während des Zweiten Weltkriegs, denen das kleine Volk vehement trotzte und der Sowjetarmee eine Niederlage sowie empfindliche Verluste bescherte. Dennoch musste Finnland nach dem Fortsetzungskrieg weite Teile Kareliens an Russland abtreten. Ich recherchierte weiter: Wie viel Finnland ist im heutigen russischen Teil Kareliens übrig geblieben? Gibt es dort noch Menschen, die die alte karelische Sprache sprechen? – Kaum. Die meisten Karelier sind damals ins finnische Kernland geflohen, viele Dörfer verfielen, und die Sowjetunion siedelte Menschen aus anderen Teilen ihres Reiches in der Region an. Heute leben auf russischer Seite nur noch wenige ethnische Karelier, die ihre Traditionen und ihre Sprache pflegen.
Ich reiste mit Google Maps und Street View an die Orte, las Berichte des Finnischen Rundfunks über Menschen, die mitten in der Sperrzone leben, und sog alles auf, was ich zu diesem Thema finden konnte. Der Google Übersetzer glühte mit meinem Eifer um die Wette.
Keine Frage, ich war so fasziniert, dass ich mir diese Region, über die ich nun so viel gelesen hatte, mit eigenen Augen ansehen wollte. Zugleich formten sich in meiner Vorstellung Figuren, die sich in diesem Setting bewegen – entlang der physischen Grenzzone, ihre eigenen, inneren Grenzen auslotend. Eine Geschichte begann, sich zu formen …
Inzwischen waren mehrere Jahre vergangen, und ich überlegte immer lauter, im nächsten Sommerurlaub mit der Familie wieder nach Finnland zu fahren. Nach Karelien, an den Schauplatz der Geschichte, die in meinen Gedanken immer mehr Raum einnahm. Doch die Anreise war teuer, und was sollten wir als Familie in einem Landstrich anstellen, in dem man sich nicht in alle Richtungen frei bewegen darf? Ich fürchtete, dass der Rest der Familie sich dort am Ende nur langweilen würde. Deshalb buchten wir für 2023 ganz brav unseren Schwedenurlaub.
Doch dieses eine Ferienhaus in Südkarelien, das bei meinen Recherchen immer wieder aufgetaucht war, dessen Räume und Umgebung ich schon auswendig zu kennen schien, ließ mich nicht los. Dort wollte ich hin.
Nur, wie sollte ich das anstellen?
Fotos: (c) Katrin Faludi
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