„Die Schotterstraße wand sich in weiten Kurven durch die Wald- und Wiesenlandschaft. Birken und Fichten zogen Tainas Blick jedes Mal unwillkürlich aufwärts, wenn sie auf die Straße trat. Zwischen den Baumwipfeln sah das helle Band des Himmels aus wie ein Weg, fand sie. Manchmal stellte sie sich vor, barfuß über die Wolken zu hüpfen, was bei den spitzen Kieseln zu ihren Füßen undenkbar war.“
– Das Haus am Ende der Welt, S. 35
In der Mittagssonne wandere ich die Schotterstraße nach Norden, vorbei an Blumenwiesen und Waldflecken. Hin und wieder blitzt der See zwischen den Bäumen hindurch. Auch Tage nach meiner Ankunft staune ich noch über das Licht, das mir in diesen Breiten so viel greller und intensiver erscheint. Der finnische Sommer gibt alles; schnell wird mir in meinen Jeans zu warm.
Am späten Vormittag bin ich von meinem Mökki aufgebrochen und dem Waldweg bis zur Straße hinunter gefolgt. Während ich durch einen Birkenhain wanderte, kam mir ein Gedanke: Du könntest ja mal beten. Einfach so, aus dem Nichts.
Gebet ist mir nicht fremd, doch dieser Gedanke überraschte mich, denn ich wusste nicht, wofür ich beten sollte. Der Weg vor mir war weder lang noch beschwerlich – das wusste ich, denn ich war die Strecke bereits mit dem Auto abgefahren. Ich wollte etwa sieben Kilometer nach Norden wandern, bis zu einer Stelle, an der die Grenze zwischen Finnland und Russland in nur 50 Metern Abstand parallel zur Straße verläuft. Viel erhoffte ich mir davon nicht, denn vom Auto aus war dort kaum etwas zu sehen gewesen. Doch an diesem Vormittag hatte ich nichts Besseres vor, da mein ursprüngliches Programm für den Tag – ein Besuch im Grenzmuseum von Imatra – leider ins Wasser gefallen war. Das Museum war wegen Umbau geschlossen.
Ja, wofür sollte ich beten? Ich überlegte kurz und sagte dann in Gedanken: Okay, Gott, zeig mir einfach etwas Bemerkenswertes am Wegrand.
Das ist nun etwa eine gute Stunde her und das Bemerkenswerteste, was ich bisher am Wegrand entdeckt habe, war etwas rostiger Stacheldraht neben einem Baumstumpf, auf dem ich während einer kurzen Pause meinen Apfel gekaut habe. Ansonsten ist die Gegend freundlich und unaufdringlich. Äcker und Wiesen, flimmernde Luft und Grillenzirpen, ab und zu ein Straßenabzweig, der weiter ins Nirgendwo zu führen scheint.
Doch dann sehe ich sie: Am Wegrand recken sich zartrosa und kräftig violette Rispen der Sonne entgegen – ein kleines Meer aus Lupinen! Meine Lieblingsblumen. In meinem Garten wollen sie nicht gedeihen, aber hier im Norden schießen sie im Juni praktisch aus jedem Straßengraben empor! Glücklich hole ich meine Spiegelreflexkamera aus dem Rucksack, kauere mich vor den Graben und mache Bilder.
Da nähert sich ein Auto. Das erste seit einer halben Stunde auf dieser einsamen Landstraße. Es hält an, und ein zahnloser alter Mann in Cordhosen, die ähnlich verbeult wirken wie sein Auto, steigt aus und ruft mir etwas auf Finnisch zu. Als er merkt, dass ich ihn nicht verstehe, kommt er näher und wiederholt seine Frage langsamer. Er spricht offenbar kein Englisch.
„Warum machst du Fotos von dem Unkraut dort?“, reime ich mir zusammen.
Ich krame meine spärlichen Finnischkenntnisse zusammen und erkläre ihm, dass ich die Blumen schön finde. Der Alte lacht, macht eine wegwerfende Handbewegung und behauptet, das sei nur Abfall am Straßenrand. Als Nächstes will er wissen, ob ich hier Urlaub mache und von wem ich eine Hütte gemietet hätte. Als ich den Namen meines Vermieters nenne, steht er plötzlich stramm und salutiert: „Soldaatti! Rajamies!“
Wie sich herausstellt, ist mein Vermieter, dem ich bisher nicht persönlich begegnet bin, Grenzbeamter! In mir springt ein Gefühl an, als hätte ich gerade einen Spielautomaten geknackt. Ich hatte mir insgeheim gewünscht, einen Grenzbeamten zu treffen, hatte mich jedoch nicht getraut, den Grenzschutz zu kontaktieren – nicht in politisch so sensiblen Zeiten wie diesen. Aber eine wichtige Nebenfigur in meinem Roman ist Grenzschützer, und ich hätte gerne einen solchen kennengelernt, um das, was ich bisher recherchiert hatte, mit persönlichen Eindrücken zu ergänzen.
Der alte Mann ist entgegen aller finnischen Klischees in Plauderlaune und lädt mich auf einen Kaffee zu sich nach Hause ein, aber ich lehne dankend ab und setze meinen Weg fort. Nach ein paar Schritten ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche – und zaudere. Zu gerne würde ich meinen Vermieter fragen, ob er zu einem Treffen bereit wäre, um mir ein paar Fragen zu beantworten. Aber wäre das nicht furchtbar aufdringlich?
Da fällt mir mein Gebet vom Beginn der Wanderung wieder ein: Gott, zeig mir etwas Bemerkenswertes am Wegrand.
Und wenn diese Begegnung eben das Bemerkenswerte war, für das ich gebetet habe? Ich glaube an Zufälle, aber nicht nur. Vielleicht ist das gerade eine Antwort auf ein anderes, heimliches Gebet, das ich nie so formuliert, aber schon länger in mir getragen habe: Ich würde zu gerne jemanden vom Grenzschutz treffen.
Immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht, dass meine Sehnsüchte mich nicht zufällig in eine bestimmte Richtung ziehen. Ich glaube sogar, dass Gott mir solche Sehnsüchte ins Herz legt, um mich zu Dingen zu bewegen, die mich selbst und später auch andere glücklich machen. Warum wollte ich so unbedingt nach Finnland? Warum gerade an diesen bestimmten Ort? Warum will ich unbedingt dieses Buch schreiben? Ich glaube an einen Sinn dahinter.
Vielleicht will ich die Geschichte nicht nur schreiben. Vielleicht soll ich es auch. Weil es mich selbst glücklich macht, zu schreiben – aber vielleicht auch, weil das Buch später einer bestimmten Leserin oder einem bestimmten Leser in irgendeiner Weise ins Herz spricht und etwas Gutes bewirkt. Das ist jedenfalls meine Hoffnung.
Ich schreibe meinem Vermieter eine Nachricht.
Fotos: (c) Katrin Faludi
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