„Und nun steht Taina sich selbst gegenüber, sieht das verlorengegangene, unerreichbare Ufer in sich, das Land, das einmal zu ihr gehört hat, und das sie nicht mehr betreten darf, weil Henning es so bestimmt hat. Nicht nur Staaten rauben einander Territorien, Menschen tun es genauso – und behaupten hinterher, sie hätten doch Gutes getan.“
– Das Haus am Ende der Welt, S. 267
Als ich im Juni 2023 auf dem Steg saß, meine Füße in den finnischen Grenzsee baumeln ließ und auf das nur wenige hundert Meter entfernt liegende russische Ufer blickte, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass dieser Landstrich nur ein halbes Jahr später in den deutschen Abendnachrichten auftauchen würde: Finnland schließt alle Grenzübergänge nach Russland. So geschehen Ende November desselben Jahres. Finnland warf Russland vor, als hybride Kriegsmaßnahme große Gruppen von Migranten gezielt über die Grenze zu schicken.
Mein Vermieter, ein pensionierter Grenzsoldat, hatte bei unserem Treffen im Sommer genau das vorausgesagt: Russland werde in großer Zahl Asylbewerber über die finnische Grenze schleusen, um auf diese Weise das Land zu destabilisieren. Deshalb habe man begonnen, einen mehrere Meter hohen Grenzzaun mit Stacheldrahtkrone zu bauen.
Inzwischen ist der Zaun Realität. Entlang seiner 1.300 Kilometer langen Grenze errichtet Finnland an strategisch wichtigen Stellen diesen Zaun und investiert in moderne Überwachungstechnologien. In Fernsehberichten äußern sich Bewohner der Grenzregion besorgt über die politische Entwicklung. „Sollte es zu einer russischen Invasion kommen, bekommen wir sie als erste zu spüren“, sagt eine Einwohnerin der Grenzstadt Lappeenranta gegenüber Journalisten.
Die Finnen reagieren nicht ohne Grund nervös. Nachdem das Land 1917 seine Unabhängigkeit vom Zarenreich erlangt hatte, wurde es während des Zweiten Weltkriegs zweimal von der Sowjetunion überfallen. Zwar konnte es seine Eigenständigkeit wahren, doch musste es beträchtliche Teile Kareliens an den bedrohlichen Nachbarn abtreten. Das hat man bis heute nicht vergessen.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, auf das andere Ufer des Sees zu blicken und zu wissen: Die Landschaft dort drüben ist dieselbe, doch das Land samt Sprache und Kultur mittlerweile ein ganz anderes. Die Dörfer im Wald auf der anderen Seite tragen noch immer finnische Namen, jedoch werden diese kyrillisch geschrieben. Die Eltern und Großeltern vieler Menschen auf finnischer Seite wurden in jenen Dörfern geboren, doch dürfen sie diese heute nicht mehr besuchen, weil sie im russischen Sperrbezirk liegen. Diese Spannung zog sich wie ein unsichtbarer Zaun mitten durch den friedlichen See. Ich konnte nicht hinübersehen, ohne daran zu denken, dass es zu diesem Zeitpunkt unmöglich war, ans andere Ufer zu gelangen. Gerade das entfachte eine irrationale Sehnsucht, genau das zu tun. Ich wollte gerne in das kleine Ruderboot neben dem Steg steigen, mich in die Riemen legen und am anderen Ufer anlanden – einem Ufer, das genauso aussah wie meines. Doch es war streng verboten.
Unmittelbar hinter der Zufahrt zu meinem Mökki verschwand der Waldweg hinter einer Hügelkuppe. Mein Vermieter verriet mir, dass sich dort im Wald ein Aussichtsturm des Grenzschutzes verberge. Zu sehen war er nicht, denn nur 20 Meter von meiner Zufahrt entfernt verbot eines der typischen Rajavyöhyke-Warnschilder den Zugang zur Grenzzone.
Wie oft blieb ich während der Woche vor diesem und vielen anderen solchen Schildern stehen, mit dem brennenden Wunsch, ein paar Schritte in diese Zone zu machen, obwohl ich wusste, dass es dort nichts zu sehen gab außer den gleichen Bäumen und Sträuchern, die auch hinter mir wuchsen. Durch das dichte Geäst spähte ich nach den weiß-blau geringelten Grenzsäulen, um einen Blick auf die exakte Linie zu werfen, die ein und dieselbe Landschaft in unsichtbare Gegensätze verwandelt. Vielleicht ist es das, was Grenzen so faszinierend macht: Dass das Trennende dem Blick verborgen bleibt und doch alles durchdringt. Dass sie die Macht haben, Vertrautes einander zu entfremden.
Ich wollte kein Buch über die aktuelle politische Situation in der Region schreiben, sondern einen Roman über die Sehnsucht, Grenzen zu überwinden. Für mich ist der Schauplatz in Das Haus am Ende der Welt in erster Linie ein symbolischer und weniger ein politischer. Trotzdem habe ich mich bemüht, die aktuelle Situation so treffend wie möglich wiederzugeben, ohne sie zu sehr zu thematisieren oder Ressentiments zu schüren. Denn es geht nicht nur um das Überwinden von Grenzen, sondern zugleich auch um den Respekt davor.
Letztlich ist auch dies eins der Dilemmata, durch die ich meine Figuren in der Geschichte schicke – äußerlich wie auch auf ihrer inneren Reise.
Fotos: (c) Katrin Faludi
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