Die folgende unveröffentlichte Szene stammt aus meinem Roman Das Haus am Ende der Welt. Sie stand fast bis zum Schluss im Manuskript. In einer der letzten Lektoratsrunden haben meine Lektorin und ich dann beschlossen, sie herauszunehmen.

Es war keine leichte Entscheidung: Die Szene ging mir persönlich sehr nah. Nichts an der Handlung habe ich so erlebt, aber das Gefühl, das dahintersteckt, ist tief mit meinen eigenen Erfahrungen verknüpft. Gerade deswegen ist die Passage so intensiv, fast rauschhaft. Bei Testlesern und meiner Lektorin rief sie Fragen und Emotionen hervor, die sich nur schwer einordnen ließen. Außerdem überschlagen sich nach dieser Szene die Ereignisse im Buch, sodass die Gewichtung am Ende womöglich zu stark geworden wäre.

Auch wenn sie für das Buch zu viel des Guten gewesen wäre, bin ich überzeugt, dass diese Szene etwas Besonderes ist. Und genau deshalb gibt es sie hier ganz exklusiv:

Buch "Das Haus am Ende der Welt"

Oktober 2015

Sie waren noch vor Morgengrauen aufgestanden. Emppu war aufgekratzt und schmierte Brote. Berge von Broten mit Käse und Salami. Sie packte zwei Flaschen Cola in den Rucksack. Begierig verfolgte Taina die Flaschen mit ihren Augen, denn zu Hause hatte sie niemals Cola trinken dürfen und bei Rebecca kam so etwas selbstverständlich auch nicht auf den Tisch. Die hielt sogar Apfelschorle für Teufelszeug.

Emppu stopfte Tüten mit Chips und Weingummi in den Rucksack, bis dieser aus allen Nähten zu platzen schien. Dann forderte sie Taina auf, Jacke und Schuhe anzuziehen.

„Wo gehen wir hin?“

Emppu grinste breit. „Überraschung!“

Sie stiegen in den moosgrünen Renault, in dem Taina schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gefahren war. Der Motor stotterte beim Anlassen. Emppu versetzte dem Lenkrad einen Klaps wie einem störrischen Pferd und tatsächlich tat das Auto einen Schnauber und sprang an. Sie fuhren mit der aufgehenden Sonne im Rücken. Die leeren Straßen sahen aus, als hätten sie vergessen, ihr Bettzeug wegzuräumen. Nebelbänke so dick wie Federbetten.

„Ich bin mit Opa zum Reiten verabredet“, sagte Taina.

„Heute nicht“, erwiderte Emppu lächelnd und fummelte am Autoradio herum. Sie fand einen Rocksender und drehte die Musik voll auf. Taina hätte schreien müssen, um ihr weitere Fragen zu stellen.

Nach zwei Stunden fuhren sie auf einen riesigen, fast leeren Parkplatz. Als Emppu den Motor abstellte und die Musik plötzlich erstarb, fühlte sich Taina für einen Augenblick lang taub.

„Wo sind wir hier?“, fragte sie beim Aussteigen.

„Komm mit!“

Sie überquerten den Parkplatz und landeten auf einer Art Dorfplatz mit Pflastersteinen und Fachwerkgebäuden, die ein Portal bildeten; viel zu hübsch und viel zu durchgestylt, um auch nur ansatzweise echt zu wirken. In einem Durchgang löste Emppu zwei Eintrittskarten.

„Bist du schon mal Achterbahn gefahren, Krümelchen?“

Taina schüttelte den Kopf.

„Du wirst es lieben, glaub mir!“

Nach der ersten Fahrt war sie außer Atem und ihre Hände schmerzten vom krampfhaften Festklammern an der Eisenstange vor sich. Beim Aussteigen waren ihre Beine weich wie Gelee.

„Komm, gleich noch mal!“, rief Emppu begeistert und zog sie mit sich, um sich erneut anzustellen. Taina taumelte hinter ihr her.

Bei der zweiten Fahrt wusste sie, was sie erwartete, und sie traute sich sogar, die Augen zu öffnen. Emppu neben ihr riss die Hände in die Luft und schrie aus Leibeskräften. Bei der dritten Fahrt ließ Taina sich entspannt in den Sitz sinken und genoss den scharfen Fahrtwind im Gesicht.

Sie fuhren Achterbahn und Karussell, Schiffsschaukel und Floß, vergaßen die Brote in Emppus Rucksack und stopften sich mittags hastig mit Pizza voll. Emppu kaufte Zuckerwatte und Plüschtiere. Ihre Augen leuchteten unentwegt, sie redete und scherzte, wie Taina es bei ihr noch nie erlebt hatte, und steckte sich nicht einmal eine Zigarette an. In einer rasenden Geschwindigkeit arbeiteten sie sich durch den Park, nahmen jede Attraktion mit, als wäre jede Pause, jedes Luftholen sträfliche Zeitverschwendung. Der Fahrtwind, Emppus Lachen, der ganze Tag riss Taina mit sich wie ein riesiger Strudel, sie konnte gar nicht anders, als sich dem Schwindel hinzugeben, und mit einem „Das war doch ein Riesenspaß, nicht wahr?“, wankten sie auf müden Füßen bei Einbruch der Dunkelheit zum Parkplatz zurück.

Taina war überwältigt. Nach einem Tag voll Adrenalin und Zucker zitterten ihre Glieder und sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Im Auto sank sie erschöpft auf ihren Sitz.

Diesen Tag würde sie nie wieder vergessen. Ihren letzten gemeinsamen Tag mit Emppu.


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