„Sie richtet ihren Blick auf das flache Holzhäuschen vor sich. Das Mökki, das leicht erhöht auf einem Buckel steht, bekommt eine letzte Ladung Sonnenstrahlen ab. Sein roter Anstrich ist schon etwas verblichen und bringt stellenweise rohes Holz zum Vorschein wie Schürfwunden, von Zeit und Witterung gerissen.“
– Das Haus am Ende der Welt, S. 29
Es ist ein später Abend Mitte Juni 2023, und wie meine Protagonistin Taina aus Das Haus am Ende der Welt stehe auch ich allein auf dem Vorplatz eines rotgestrichenen Mökkis im äußersten Südosten Finnlands, erschöpft, ja geradezu erschlagen von einem langen Reisetag. Erst der dreistündige Flug, dann noch einmal vier Stunden Autofahrt über endlose Landstraßen, immer ostwärts, dem weiten, blassblauen Abendhimmel entgegen.
Auf dem letzten Kilometer habe ich meinen kleinen Mietwagen eine steile Waldpiste hochgequält und immer wieder die Zähne zusammengebissen, wenn ein großer Schotterstein gegen den Unterboden prallte. Ein letztes Aufbäumen auf der besonders steilen Zufahrt, dann bin ich angekommen und werde mit einem grandiosen Ausblick belohnt: Durch die Wipfel der Kiefern und Espen am Abhang schimmert der Tyrjänjärvi im Dämmerlicht. Und vor mir steht das Mökki. Mein Sehnsuchtsort, seit ich die Anzeige für dieses Ferienhaus erstmals entdeckt hatte. Ich schicke einen dankbaren Gedanken an meinen Mann, der sich Urlaub genommen hat, um die Kinder zu versorgen, damit ich zur Buchrecherche nach Südkarelien reisen konnte.
Schnell lade ich mein Gepäck ins Haus und steige voller Vorfreude die frisch gezimmerte Holztreppe hinab zum Bootssteg. Der See bildet eine makellose Fläche, in der sich der Waldsaum am gegenüberliegenden Ufer gestochen scharf spiegelt. Doch als ich auf die Planken trete, passiert etwas Merkwürdiges.
Es ist wie ein Sog, wie ein plötzliches Vakuum, das jeden Laut schluckt. Unheimlich. Schmerzhaft, irgendwie.
Reglos stehe ich am Ende des Stegs, blicke über den See und staune über diese dröhnende Stille, wie ich sie noch nie vernommen habe. Einer riesigen Kuppel gleich umfängt sie mich und mich durchdringt ein dumpfes Gefühl, wie die kurze Taubheit nach einem lauten Knall.
Monatelang habe ich mich auf diesen Moment gefreut, auf das Ankommen, den ersten Blick über den See. Doch nun stehe ich hier, wie leergesaugt von diesem Vakuum. Statt der erwarteten Freude beginnt mich etwas anderes von innen her zu füllen: Beklommenheit. Traurigkeit. Eine diffuse Angst aus großer Tiefe.
Was tue ich hier? So ganz allein an diesem fast unerträglich stillen Ort, 2000 Kilometer von zu Hause entfernt, wo der Stadtlärm zu Tages- und Nachtzeit wie Sauerstoff die Luft erfüllt? Was hat mich hierhergezogen?
Es fällt mir schwer zu atmen. Die unerwartete Enttäuschung fühlt sich an wie eine zu feste Umarmung. Ich wollte doch so gerne hierherkommen, meine Geschichte träumend zum Leben erwecken. Doch nun stehe ich hier und fühle mich verloren in dieser erdrückenden Weite.
Dann begreife ich.
Ich bin hier richtig. Ich soll hier sein. So fühlt er sich an, der Schauplatz meiner neuen Geschichte, von der ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, dass sie Das Haus am Ende der Welt heißen wird. Denn an diesem Ende stehe ich. Schaue über das Wasser hinüber zu dem menschenleeren Ufer.
Mit dem Ruderboot, das kieloben auf dem Waldboden liegt, könnte ich in einer Viertelstunde hinüberrudern. Doch das ist verboten. Nur hundert Meter vom Steg entfernt, bei der spitzen, gelben Boje, die aufrecht im Wasser steht, beginnt die Sperrzone. Weitere hundert Meter dahinter markiert eine zweite Kette aus gelben Bojen die Grenze. Das andere Ufer gehört schon zu Russland. Zum Greifen nah, aber im Sommer 2023 zugleich ferner denn je, wie ein Ende der mir bekannten und vertrauten Welt. Zu friedlicheren Zeiten hätte ich mich um einen Tagesausflug nach Sortawala oder Wyborg bemüht, um wenigstens einmal für ein paar Stunden in dem fremden Land gewesen zu sein. Jetzt ist daran nicht zu denken.
Die Beklommenheit lässt sich nicht abschütteln, als ich mich losreiße und die Treppe wieder hochsteige, um das Haus von innen zu besichtigen: die unvermeidlichen Kiefernholzmöbel, das billige Linoleum zu meinen Füßen, die Küche, deren Schranktüren schief in den Angeln hängen, das spärliche Geschirr. Alles ein bisschen schäbig, alles ein bisschen runtergewirtschaftet, aber sauber und funktional.
Bisher hatte das Haus am Ende der Welt nur in meiner Fantasie existiert. Meine Protagonisten hatten sich in einem Haus und auf seinem Außengelände bewegt, das ich mir komplett ausgedacht hatte. Jetzt aber versuche ich, mir meine Charaktere in diesem Haus vorzustellen. Auf dieser Holztreppe, diesem Bootssteg, auf dem Schotterweg, der zu dieser kleinen Halbinsel führt, dem Saunamökki auf halber Strecke den Abhang hinunter. Ich beginne, den Ort durch die Augen meiner Hauptfiguren wahrzunehmen und zu fühlen, und ja, ich bin mir sicher: Hier gehören sie hin. In diese Stille, in diese Beklommenheit.
Das ist der Schauplatz.
Fotos: (c) Katrin Faludi