„Über dem russischen Ufer taucht ein Helikopter auf. Einen Augenblick lang verharrt er uns gegenüber in der Luft, als würde die Besatzung an Bord mit ihren Feldstechern gucken, welche Marke Bier wir trinken. Juha scheint dasselbe zu denken. Er reckt seinen rechten Arm mit der Bärendose in die Luft und brüllt aus vollem Hals gegen den Krach an: ‚Hyvää Juhannusta!‘“

– Das Haus am Ende der Welt, S. 303

Korvapuustit

Ich habe keine Ahnung von Kaffee, ich trinke nie welchen. Noch weniger Ahnung habe ich von finnischem Kaffee. Nun stehe ich im Supermarkt vor dem Kaffeeregal und studiere ratlos die fremden Marken und Sorten. Juhla oder Presidentti? Welchen soll ich meinen Gästen bloß vorsetzen?

Kurzerhand schnappe ich mir die nächste vorbeilaufende Kundin. „Entschuldigen Sie, welchen Kaffee würden Sie kaufen, wenn Sie Gäste erwarten?“ Die Frau sieht mich völlig verdattert an. Angesichts dessen, was ich über die Finnen und ihr Verhältnis zum Kaffeekonsum gelesen habe (sie gehören stets zu den Top 3 der Kaffeetrinkernationen weltweit), muss meine Frage wirken, als hätte ich wissen wollen, ob man Luft atmen kann. Die Frau deutet auf eine Packung Juhla. „Den würde ich nehmen.“ Fluchtartig verlässt sie die Szene, und ich werfe Juhla in meinen Einkaufswagen. Ich glaube, das Wort bedeutet „Feier“. Na, das passt ja, denke ich, denn mir ist zum Feiern zumute.

Am Nachmittag kämpfe ich in der Mökkiküche mit der Kaffeemaschine, die im ersten Versuch nur blasse Plörre ausspuckt. Den zweiten Versuch lasse ich gelten, fülle die Kanne und richte die mitgebrachten Korvapuustit auf einem Teller an. Diese Zimtschnecken sollen hier unglaublich beliebt sein, aber ich frage mich trotzdem, warum man sie „Ohrfeigen“ nennt. Mit Ohren haben die Teilchen jedenfalls keinerlei Ähnlichkeit. Diese Frage werde ich mir für mein Buch merken, denn ich habe vor, einiges von dem, was ich in Finnland gegessen habe, in der Geschichte unterzubringen – bis auf den zementfarbenen Lakritz-Fudge-Pudding vielleicht. So grausam bin ich dann doch nicht.

Pünktlich um 14 Uhr kommt das Vermieter-Ehepaar. Er ist Anfang 60, pensionierter Grenzschützer, und hinkt auf einem Bein. Das jahrelange Marschieren über Stock und Stein, immer zehn Kilometer pro Streife, hat Spuren hinterlassen. Seine Frau ist etwas jünger und Englischlehrerin an einer Schule in der Nachbarstadt. Damit sichert sie die Konversation, denn ihr Mann behauptet, kein Englisch zu sprechen. Zwar habe ich daran Zweifel, aber die Rollen sind klar verteilt: Sie redet, er sitzt mit unergründlicher Miene auf der Veranda und blickt schweigend über den See.

Von der Frau erfahre ich einiges über das Leben in der Grenzregion. Sie bedauert, dass die Beziehung zu Russland in den vergangenen Jahren so abgekühlt ist. Es sei ein rätselhaftes Land, das man von außen wohl nicht verstehen könne. Die Menschen seien sehr angenehm und gastfreundlich, aber mit den Behörden könne es schwierig werden. Die Grenzschützer beider Länder hätten jedoch überwiegend gut zusammengearbeitet.

Ich erfahre, dass die finnischen Grenzschützer in der Region viel Präsenz zeigen, auch um der Bevölkerung Sicherheit zu vermitteln. Man sei wachsamer geworden, seit sich die Beziehungen verschlechtert haben. Hin und wieder komme es zu kleineren Sticheleien von russischer Seite, die an sich aber harmlos sind. Eine solche Geschichte, die der Mann in einem seiner seltenen Einwürfe erzählt, bringt mich zum Schmunzeln. Auf diese Art Anekdoten habe ich gehofft, und ich bin mir sicher, dass sie in irgendeiner Weise in die Geschichte Einzug halten werden.

Ich folge dem Blick meines Vermieters, der oft zum russischen Seeufer hinüberwandert. Es ist ihm anzumerken, dass er misstrauisch ist; er erzählt nur sehr dosiert. Das wundert mich nicht. Ich bin froh und dankbar, dass er sich überhaupt zu einem Treffen bereit erklärt hat und bereit ist, meine Neugierde ein wenig zu stillen. Mir geht es auch nicht um krasse Geschichten oder Geheimnisse. Kleine Anekdoten aus dem Alltag eines Grenzschützers – das war, worauf ich gehofft habe. Um das Setting, über das ich schreiben will, ein wenig lebendiger und glaubhafter zu gestalten.

Dass mich der Vermieter zu einer kleinen Nebenrolle im Buch inspiriert, ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Es ergibt sich im Schreibprozess. Da taucht er auf einmal am Rand der Geschichte auf – dieser ältere Grenzschutzsoldat, der auf einem Bein hinkt und einem nie in die Augen sieht, sondern stets knapp am Gesicht vorbei. Ein Hundeführer, wie es mein Vermieter gewesen ist, hilfsbereit, aber reserviert. Wer in Das Haus am Ende der Welt auf diese Figur trifft, weiß nun: Es gibt ihn wirklich – irgendwie. Natürlich heißt er anders, und inzwischen ist er pensioniert. Aber diese Figur hat ein Vorbild.

Nach zwei Stunden verabschiedet sich das Ehepaar. Ich feiere die Begegnung, die mich inspiriert hat. Doch als ich die Kaffeetassen in die Küche räume, stelle ich fest, dass der Juhla-Kaffee so gar nicht gefeiert wurde. Die Tassen sind noch halb voll. Ich muss wohl an meinen Kaffeeskills arbeiten – oder beim nächsten Mal Presidentti kaufen.

Fotos: (c) Katrin Faludi


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