„Sie schließt die Finger fester um den Kiefernzapfen, bis die stumpfen Schuppen in ihre Handflächen schneiden, denn sie will nicht in solche Traumbilder abgleiten. Aber irgendwie ist sie schuld an allem. Sie weiß nicht, warum. Sie weiß nur, dass.“
– Das Haus am Ende der Welt, S. 203
Was bringt man aus Finnland mit? Weiße Schokolade mit Himbeerstückchen und Salmiaklakritz zum Beispiel. Mumin-Sammeltassen, von denen angeblich jeder finnische Haushalt reichlich besitzt. Die Weingummimischung der Marke Ässä, weil das für mich als hessisch sozialisierten Menschen wie eine Aufforderung klingt.
Mein gewöhnlichstes und zugleich ungewöhnlichstes Souvenir aber sind eine Handvoll Kiefernzapfen. Ich habe sie vom Waldboden rund um mein Mökki aufgesammelt, wo sie massenhaft herumlagen. Natürlich kommt die Gemeine Waldkiefer auch in unseren Gefilden häufig vor, aber ich wollte etwas von dem Ort mitnehmen, den ich zum Schauplatz von Das Haus am Ende der Welt machen wollte. Etwas, das ich immer wieder in die Hand konnte, um die Verbindung zu diesem Ort zu spüren. So reiste ich, neben all den anderen Mitbringseln für meine Familie und mich selbst, mit einer kleinen Tüte voller Kiefernzapfen im Gepäck nach Hause.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung, warum diese Zapfen einmal wichtig werden würden. Ich erinnere mich auch nicht mehr, ob ich sie damals bereits gedanklich als Element in die Geschichte eingebaut hatte. Irgendwie fanden sie ihren Weg hinein – und das Merkwürdige ist: Ich wusste selbst nicht, welche Bedeutung die Kiefernzapfen tragen sollten.
Während meiner Schul- und Studienzeit, muss ich zugeben, war ich ziemlich schlecht im Interpretieren von Literatur. Die Bäume, Wälder und Zaunpfähle konnten noch so groß sein – oft begriff ich ihre Bedeutung nicht. Immer wieder staunte ich darüber, was Mitschüler und Kommilitonen alles an Symbolik in Geschichten fanden. Ich selbst schien dafür blind zu sein.
Und nun ist es mir selbst passiert: Ich habe Symbolik als Stilmittel eingesetzt. Je länger ich an Das Haus am Ende der Welt schrieb, desto häufiger drängten sich die Kiefernzapfen als bedeutungstragendes Bild in die Geschichte hinein. Meine Protagonistin Taina schleppt einen ganzen Rucksack voll davon auf ihrer spontanen Flucht von Deutschland in ihre karelische Heimat mit, ohne sich selbst erklären zu können, warum sie die Dinger eingepackt hat. Ich selbst konnte das zunächst auch nicht.
Mir erschien die Sache mit den Zapfen verrückt und einleuchtend zugleich. Sollte ich zu Beginn des Schreibens die wesentlichen Motive und Macken meiner Protagonisten nicht ausreichend ausgelotet haben? Ich bildete mir ein, das getan zu haben, doch dieses Symbol drängte sich hartnäckig auf. Immer wieder greift Taina im Laufe der Geschichte zu den Kiefernzapfen, hält sie in der Hand und zupft an den Schuppen herum. Warum sie davon nicht lassen kann und was sie ihr bedeuten – das konnte ich nicht bewusst benennen. Mir war nur klar: Das Ganze hat eine Bedeutung und sie ist wichtig.
Erst ganz am Ende der Geschichte löst sich das Rätsel um die Kiefernzapfen. Und erst, als ich diese Szene schrieb, begriff ich selbst, was ich damit zum Ausdruck bringen wollte. Plötzlich wurde mir die Symbolik, die sich durch das ganze Buch zieht, klar. Ich begriff, was meine Protagonistin im Innersten wirklich angetrieben hatte. Zwar hatte ich ihr einige Motive angedichtet, aber mit der eigentlichen Triebfeder ihres Handelns hat sie mich in diesem Moment überrascht. Es ergab absolut Sinn, und ich war nach dem Schreiben dieser Szene so beschwingt und glücklich wie bei keiner anderen. Vielleicht war dies sogar mein bisher glücklichster Schreibmoment. Besonders gefreut hat mich später der Kommentar meiner Lektorin an dieser Stelle: Diese Passage ist für mich die beste im ganzen Buch – sehr gut geschrieben!!!!!! Und normalerweise setzt sie Satzzeichen nicht im Rudel.
Was habe ich daraus gelernt? Wenn solche Bilder auftauchen, haben sie eine Bedeutung, und es lohnt sich, darauf zu vertrauen, dass diese sich im Laufe des Prozesses erschließen wird. Während ich Schattenwald sehr detailliert geplant hatte, habe ich Das Haus am Ende der Welt intuitiver geschrieben und mir mehr Raum gegeben, die emotionalen Tiefen der Geschichte auszuloten. Das Unterbewusstsein schreibt mit, aber es kostet Überwindung, es anzuzapfen und seine Motive kommen zu lassen. Wer weiß schon, ob nicht am Ende etwas Peinliches oder Verstörendes dabei herauskommt?
Das war bei diesem Buch nicht der Fall. Aber mich hat am Ende doch überrascht, welches Gefühl aus den Tiefen meines Unterbewussten im Handeln meiner Figur zutage trat. Damit hatte ich nicht unbedingt gerechnet. Das aber sind die Momente, die das Schreiben für mich als Schriftstellerin so wertvoll und beglückend machen. Denn – und das gibt nicht jeder gerne zu – wir schreiben eben nicht nur für euch Leserinnen und Leser, sondern auch für uns selbst. Weil es diesen Drang gibt, Emotionen, die uns im Innersten bewegen, in erdachten Welten zum Ausdruck zu bringen und durch diese Welten andere Seelen zu berühren. Weil wir uns durchs Schreiben selbst besser verstehen lernen.
Was nicht alles in einer Handvoll Kiefernzapfen stecken kann.
Fotos: (c) Katrin Faludi
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